Die kleine Elite

Harter Drill und großer Stolz in den russischen Kadettenschulen

Stas

Nachimovtzi! – Fliegt unser Ruf durch Sturm und über den Meeren, selbst die furchtbare See kann sich unser nicht erwehren.

Als die Münzen auf das Pflaster regnen. Da knien die Kadetten vor ihrer Akademie und grüßen sie ein letztes Mal. Ein letztes Mal. Es ist ein schöner Tag im Juni, und die Newa wiegt sich silbern und breit, und auf der anderen Uferseite sieht man die edle Silhouette von Sankt Petersburg. Zweihundertundzwanzig Kadetten blicken auf ihre Akademie, in der sie zu Männern geworden sind und zu Seefahrern, und in der sie ihre erste Zigarette geraucht haben und ihren ersten Schnaps heimlich tranken. Aufgereiht knien sie vor der Nachimov-Akademie, die Bänder an ihren Mützen flattern, die Schuhe sind blankgeputzt, die Rechte ist auf den Oberschenkel gestützt, die Linke schwebt über dem Kopf, zum Wurf erhoben.

Dann regnen Tausende von Rubelmünzen auf die Straße herab. Ein letzter Gruß. Soll Glück bringen. Auf der Newa wiegt sich der Panzerkreuzer „Aurora“, Zeitzeuge der Oktoberrevolution: grau, massig, kanonenbestückt. Hinter sich hört Stas die Münzen über die Straße klirren und über die Gehwegplatten hüpfen. Die Kadetten erheben sich, legen die Hand an die Mütze und salutieren vor dem Natschalnik, einem Konteradmiral. Ein letztes Mal.

„Tschastlivo“, murmelt Stas, „mach’s gut.“ Und er denkt zurück an die letzten Jahre. Den Drill und die Schinderei, die langen Schlafsäle, die Sommerlager und die Schiffsfahrten und die Prügeleien mit älteren Kadetten, er denkt an die Sonntage, an denen seine Mutter ihn besuchte, und an seine Freunde, die er nun vielleicht nie wieder sehen wird. Er ist siebzehn, und seit er sechs Jahre alt ist, wusste er, dass er Kadett werden will.

Oh, wie hat er sie beneidet damals, die Jungs in ihren Uniformen, und dass sie immer in Gruppen auftraten – da hat sich keiner rangetraut! Und ihre Mützen erst und ihre unglaubliche Weisheit, geradezu bestürzend, was sie so alles über Schiffe wussten und Seefahrt und Wind, lauter geheimnisvolle Dinge. Also stand Stas, seit er sechs oder sieben war, am Ufer der Newa und schaute hinüber auf die Petrograder Seite, wo die blauweiße Akademie liegt und die „Aurora“, und er zählte die Schiffe und dachte sich Namen für sie aus, und er lernte mühevoll, wo Luv liegt und wo Lee und kam manchmal erst spät nach Hause. Stas’ Zuhause befindet sich dicht am Gribojedow-Kanal, mitten im Zentrum von Sankt Petersburg, eine Gemeinschaftswohnung, eine komunalka, mit dick verriegelten Türen vor jedem Zimmer und Wasserschäden auf dem Flur, wo es nach Kohlsuppe riecht und nach Mensch.

Als Stas dreizehn war, schickte seine Mutter ein Führungszeugnis, seine Schulzensuren, einen Lebenslauf der Eltern und eine Bewerbung an den Kommandanten des nächsten Wehrdistriktes. Dann wurden sie zu einer Aufnahmeprüfung in die Akademie eingeladen – auf jeden Platz kamen zehn Bewerber. Viele wurden weggeschickt, weil sie nicht kräftig genug waren oder den Psychologietest nicht bestanden oder einfach zu schlecht in der Schule waren. Übrig blieben drei Bewerber pro Platz. Ein Jahr später wurden die Übriggebliebenen zu einem letzten Test in die Akademie gerufen; sie blieben drei Tage und dann war der neue Jahrgang komplett.

Die Nachimov-Akademie – benannt nach einem russischen Admiral des Krim-Krieges im letzten Jahrhundert – nimmt es sehr genau mit ihren Zöglingen. 1944 durch Stalin-Erlass gegründet, war sie von Beginn an als Eliteschule und Kaderschmiede gedacht. Bis vor kurzem war sie die einzige ihrer Art für die einst sowjetische, nun russische Marine; ihre Absolventen dürfen sich ohne weitere Prüfungen an Militärakademien immatrikulieren – so wie es auch Stas getan hat. An der Nachimov-Akademie wird der mittlere und obere Führungsnachwuchs herangezogen, ihm wird frühzeitig Korpsdenken eingepflanzt, und wer einen Nachimovtzi angreift, der greift alle an.

Drei Jahre studieren die Kadetten, sie gehen auf große Fahrt mit dem 10000-Tonner „Perekop“, der im Hafen der Festungsinsel Kronstadt liegt; sie lernen Unterwasser- und Überwasserziele zu bekämpfen, Flaggenzeichen und morsen, in einem Alter, da andere Teens ihre erste Sinnkrise ausrebellieren. In der Schule wird Kriegskunde gelehrt und Kriegsgeschichte, Tanzen und Courtoisie, wozu man sich junge Damen von Privatschulen einlädt, mit denen man in den Büschen hinter den Internatsgebäuden knutscht.

Irgendwo in der Menge dort, zwischen Ufer und Akademiegebäude, wird Stas’ Freundin stehen, zwischen all den Verwandten und Liebsten der Absolventen und den übrigen Schaulustigen. Nachimov-Kadetten sind begehrt bei den Mädchen von Sankt Petersburg, besonders bei denen vom Lyzeum „Schule für harmonisches Betragen“, mit denen sie die ersten Benimmregeln lernen und zuvorkommendes Stühlerücken. Künftige Offiziere müssen so etwas können.

Über Stas und den Kadetten auf der Straße flattert die Alexandrejivski, die Flagge Peters des Großen, ein blaues Andreaskreuz auf weißem Grund, das Symbol der Russischen Flotte, die 1696 geschaffen wurde. Sie wird jetzt an der langen Reihe entlanggetragen. Alle Augenpaare folgen ihr nach. Sein Nachbar stößt ihn an. „Stas“, murmelt er, „heute abend, das geht doch klar, oder?“ Stas nickt mit den Augen: klar! In der „Petrobar“ wird Abschied gefeiert, die Abzeichen der Akademie in Wodka getauft und Brüderschaft geschworen, über die Zivilen, die Graschdanki, wird hergezogen werden und sie werden ihr Lied singen: „Nachimovtzi – man nennt uns nicht umsonst so!“

Und dies soll alles vorbei sein? Stas fühlt sich, irgendwie, seltsam. Jetzt ist er nämlich ein Seemann, ein Morjak. Als die Münzen auf das Pflaster regnen.

„Auf!“ brüllt der Starschina, ein Stiernacken mit Seitenscheitel. Er hält sein Glas hoch. Die Kadetten erheben sich und reichen ihre Gläser zur Tischmitte, Wodkagläser, randvoll. In ihnen schwimmen die Abzeichen der Akademie: eine Karavelle mit gebauchten Segeln und flatterndem Stander, davor ein Wappen mit Degen, einem Jakobsstab und einer Kanone. Die Abzeichen werden „gewaschen“. Seemannsbrauch. Fünfundzwanzig Kadetten stehen um die lange Tafel herum, sehen, gerade mal siebzehn oder achtzehn Jahre alt, sehr ernst aus. Und sehr stolz. „Wir fürchten nicht Feuer und nicht Wasser. Und wir kennen keine Kälte“, sagt der Starschina, der Älteste der Klasse, die nun Abschied feiert von drei Jahren Akademie, und die nun das erste Mal in einer Bar zusammenkommen darf. Ein Starschina wird in der Regel von der Klasse gewählt, er ist ein Mittler zwischen den Maaten und Offizieren und dem gemeinen Kadettenvolk. Seine Macht ist gewaltig. Ein Fingerschnips und seine Akkoluten gruppieren sich um ihn. Er führt die Fehden gegen andere Klassen oder gar gegen eine andere Rotte.

Toast folgt auf Toast. Man spürt: Sie fühlen sich als Männer. Und Männer trinken nun mal. Ihre Welt ist einfach, weil sie nie eine andere kennengelernt haben. Ihre Welt ist dreigeteilt. Unten, ganz unten befinden sich die Zivilen, denen man sich in jeder Lebenslage überlegen weiß. Dann kommen die von der Armee, arme Schlucker, ungebildet, aber, immerhin, mit ein wenig Drill und Disziplin. „Sag selbst“, flüstert Stas zwischen zwei Ansprachen, „wie können blöde Bauern auf einem Schiff dienen? Ha, das können nur Arbeiter und kluge Menschen.“ Und oben sehen sie sich selber, wobei sie, als Nachimov-Zöglinge, noch einmal eine Extraklasse darstellen.

Der russische Muschik geht zur Armee und lässt sich im Graben totschlagen. Der patriotische Stadtrusse dient in der Flotte und segelt herrenmenschengleich um die Welt und pflanzt – von den Polen bis zu den entferntesten Inseln, wie es in ihrem Lied heißt – allenthalben das Banner Peters des Großen auf: Nastarowje, Prost!


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mare No. 4

No. 4Oktober / November 1997

Von Volker Handloik und Peter Dammann

Volker Handloik, geboren 1961, arbeitete in der DDR als Drucker, Fischereiarbeiter, Rangierer, Gabelstaplerfahrer, Kleindarsteller, Kunstkritiker, Essayist, Redakteur. Seit der Wende schrieb er als freier Journalist für mehrere Zeitschriften und Magazine. Er starb im November 2001 bei Dasht e-Qaleh in Nordost-Afghanistan als er zusammen mit Journalistenkollegen in einen Hinterhalt der Taliban geriet.

Peter Dammann, Jahrgang ’50, absolvierte ein Sozialarbeitsstudium und arbeitete anschließend zehn Jahre in diesem Bereich. Dann folgte ein Fotostudium. Oft fotografierte er Sozialreportagen in Mittel- und Osteuropa sowie Asien. 2015 ist Peter Dammann gestorben.

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Vita Volker Handloik, geboren 1961, arbeitete in der DDR als Drucker, Fischereiarbeiter, Rangierer, Gabelstaplerfahrer, Kleindarsteller, Kunstkritiker, Essayist, Redakteur. Seit der Wende schrieb er als freier Journalist für mehrere Zeitschriften und Magazine. Er starb im November 2001 bei Dasht e-Qaleh in Nordost-Afghanistan als er zusammen mit Journalistenkollegen in einen Hinterhalt der Taliban geriet.

Peter Dammann, Jahrgang ’50, absolvierte ein Sozialarbeitsstudium und arbeitete anschließend zehn Jahre in diesem Bereich. Dann folgte ein Fotostudium. Oft fotografierte er Sozialreportagen in Mittel- und Osteuropa sowie Asien. 2015 ist Peter Dammann gestorben.
Person Von Volker Handloik und Peter Dammann
Vita Volker Handloik, geboren 1961, arbeitete in der DDR als Drucker, Fischereiarbeiter, Rangierer, Gabelstaplerfahrer, Kleindarsteller, Kunstkritiker, Essayist, Redakteur. Seit der Wende schrieb er als freier Journalist für mehrere Zeitschriften und Magazine. Er starb im November 2001 bei Dasht e-Qaleh in Nordost-Afghanistan als er zusammen mit Journalistenkollegen in einen Hinterhalt der Taliban geriet.

Peter Dammann, Jahrgang ’50, absolvierte ein Sozialarbeitsstudium und arbeitete anschließend zehn Jahre in diesem Bereich. Dann folgte ein Fotostudium. Oft fotografierte er Sozialreportagen in Mittel- und Osteuropa sowie Asien. 2015 ist Peter Dammann gestorben.
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