Die Insel der Toten

Auf Hart Island vergräbt die Metropole ihre vergessenen und namenlosen Toten

Die Toten kommen im Morgengrauen. Ein verbeulter Lastwagen rumpelt über die schwarze Erde der Insel. Fährt vorbei an hohläugigen, überwucherten Ruinen. Rollt Ruß speiend entlang dem Ufer, wo Möwen am Himmel schreien. Passiert Wiesen, aus denen weiße, namenlose Grabsteine ragen. Dann wird die Erde wieder schwarz, und am Ende einer Reihe weißer Steine öffnet sich ein Graben. Dort warten die Lebenden.

Sie stehen vor Hügeln frisch ausgehobener Erde, ein Dutzend junger Männer. Sie tragen grüne Overalls und Wollmützen und helle Handschuhe, die langsam die Farbe der Erde annehmen. Ein paar haben ihre Münder mit Atemmasken bedeckt; der Tod hat einen traurigen Geruch. Lehm klebt an den Stiefeln der Männer. Sie stützen sich auf die Stiele ihrer Schaufeln. Der Lastwagen nähert sich. Dann stoppt er vor dem Graben.

„Hey“, ruft einer der Männer, „hast du Babys?“ – „Ja“, antwortet der Fahrer, „sechs.“ – „Erwachsene?“ – „Neun.“ – „Körperteile?“ – „Jede Menge.“

Dann zieht der Fahrer das Ladetor hoch, und vor ihm stapeln sich nummerierte, sandfarbene Särge.

Es ist kurz nach acht, und auf Hart Island beginnt ein gewöhnlicher Morgen. Wie jeden Donnerstag steht der graue Lastwagen mit einer Ladefläche voller Särge auf der Insel. Er ist gekommen aus den Katakomben eines Krankenhauses in Manhattan, in dem die verlassenen Toten der Stadt in Kühlschränken liegen und darauf warten, identifiziert und abgeholt zu werden. Für jene Leichen, die niemand erkennt oder vermisst, die kein Angehöriger begraben kann oder will, beginnt dort die Reise nach Hart Island. Und während ihre Särge vernagelt und in den grauen Lastwagen geladen werden, steigt auf der Gefangeneninsel Rikers Island ein Dutzend Häftlinge, mit Handschellen rasselnd, in einen vergitterten Bus und macht sich auf den Weg, die Toten zu begraben.

Sie begegnen sich auf Hart Island, die Toten und die Lebenden, die Verlassenen und die Gefangenen. Vier Mal die Woche, wenn der Tag anbricht und die Stadt zu Leben erwacht, biegt ein Lastwagen mit Leichen in eine Sackgasse am Ufer der Bronx. Fährt vorbei an einem Schild, auf dem „Dead End“ geschrieben steht, und am Ende der Straße öffnet sich ein mit Stacheldraht umwickeltes Eisentor. Dort rollt der Lastwagen auf eine rostende Fähre und setzt über nach Hart Island, wo die Häftlinge die Toten stapeln und in Zweierreihen begraben. Am fünften Tag kommt der Lastwagen ohne Särge. Dann graben die Häftlinge jene Toten wieder aus, deren Angehörige doch noch gekommen sind, um sie zu holen. Monate, Jahre später.

Die Insel ist ein Ort des Vergessens. Niemand bekommt einen Grabstein auf Hart Island. Von denen, die auf der Insel enden, bleibt nur ein Name im Register, und manchmal nicht einmal das. Eine Hautfarbe vielleicht, ein Geschlecht. So unsichtbar, wie sie lebten, so unsichtbar starben sie. Der Obdachlose, der den Sack Blechdosen über die Second Avenue schleppte. Die Chinesin, die Batterien im A-Train verkaufte. Der Schriftsteller, der seinen Roman nie zu Ende schrieb. Der Junkie, der seine letzte Spritze aufzog. Der Sohn, der mit seinen Eltern brach. Die Tochter, die tot zur Welt kam. Auf Hart Island liegen sie Seite an Seite, untereinander, übereinander. Fast eine Million. Die Insel hat mehr Tote als Boston Lebende.

Die Häftlinge holen den ersten Sarg. Ziehen ihn über die Ladefläche des Lastwagens. Der Sarg macht ein schabendes Geräusch. Ein Häftling blickt auf die Bestattungsgenehmigung, ein weißes Blatt Papier, das zwischen seinen Fingern im Wind flattert. Dann nimmt er einen schwarzen Ölstift und schreibt in großen, ungleichmäßigen Buchstaben auf die Seite des Sarges: „Angela van der Loop“. Der Wächter blickt auf den Bestattungsplan. „59-2!“, ruft er, und der Häftling fräst die Nummer in den Deckel. Späne fliegen. Der Sarg vibriert. Dann heftet der Wächter die Genehmigung an das Kopfende, und die Häftlinge heben den Sarg.

Sie tragen Angela van der Loop herüber zum Graben, zwei Männer statt der üblichen vier. „Die hier ist leicht“, sagt der Vordermann und setzt das Kopfende ab. Der Hintermann kniet sich und schiebt den Sarg langsam über den Grabrand. Unten im Graben strecken zwei Häftlinge die Arme aus. Ihre Hände greifen nach dem Sarg, balancieren ihn. Als wiegten sie Angela van der Loop. Dann halten sie still und legen ihren Sarg, Kante an Kante, auf den von Thomas Harvey, Nummer 58-1.

Es geht alles sehr schnell. Wer immer Angela van der Loop war im Leben, es ist vergessen im Moment ihres Begräbnisses. Da ist niemand, der sich erinnert, wie sie lächelte, tanzte, liebte und ob es einen Gott gab, an den sie glaubte. Sie ist nur noch ein Körper in einer Kiste aus billigem Holz, Beerdigungsnummer 59-2, begraben zwischen Thomas Harvey, Beerdigungsnummer 58-1, und Louis Shinault, Beerdigungsnummer 60-3, dessen Sarg jetzt auf ihren gelegt wird, Kante an Kante. Es ist ein stiller Moment, unterbrochen nur vom Geräusch des Spatens, der in die Erde sticht und schaufelt und sie auf die Särge prasseln lässt.


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mare No. 33

No. 33August / September 2002

Von Mario Kaiser und Joel Sternfeld

Mario Kaiser, Jahrgang 1970, freier Journalist in Harlem, New York, bemüht sich seit 1994 um eine Erlaubnis des Department of Corrections für einen Besuch der Insel. Aber die Toten von Hart Island sind ein Thema, das die Stadt nicht öffentlich behandeln will. So ließ er sich für mare als Pilger am Himmelfahrtstag zu der Friedhofsinsel übersetzen.

Die Fotografien von Joel Sternfeld, geboren 1944, wurden unter anderem im Museum of Modern Art, New York, und im Art Institute of Chicago ausgestellt. Der Guggenheim Fellow lehrt Fotografie in New York.

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Vita Mario Kaiser, Jahrgang 1970, freier Journalist in Harlem, New York, bemüht sich seit 1994 um eine Erlaubnis des Department of Corrections für einen Besuch der Insel. Aber die Toten von Hart Island sind ein Thema, das die Stadt nicht öffentlich behandeln will. So ließ er sich für mare als Pilger am Himmelfahrtstag zu der Friedhofsinsel übersetzen.

Die Fotografien von Joel Sternfeld, geboren 1944, wurden unter anderem im Museum of Modern Art, New York, und im Art Institute of Chicago ausgestellt. Der Guggenheim Fellow lehrt Fotografie in New York.
Person Von Mario Kaiser und Joel Sternfeld
Vita Mario Kaiser, Jahrgang 1970, freier Journalist in Harlem, New York, bemüht sich seit 1994 um eine Erlaubnis des Department of Corrections für einen Besuch der Insel. Aber die Toten von Hart Island sind ein Thema, das die Stadt nicht öffentlich behandeln will. So ließ er sich für mare als Pilger am Himmelfahrtstag zu der Friedhofsinsel übersetzen.

Die Fotografien von Joel Sternfeld, geboren 1944, wurden unter anderem im Museum of Modern Art, New York, und im Art Institute of Chicago ausgestellt. Der Guggenheim Fellow lehrt Fotografie in New York.
Person Von Mario Kaiser und Joel Sternfeld