Die Insel der Glückseligen

Auf der Insel Tristan da Cunha leben 300 Menschen, deren Ahnen hier einst eine ideale Gesellschaft verwirklichten: alle gleich, ohne Eigen­tum, ohne Geld. Was ist aus dem Traum geworden?

Freitag Eine Armee von Arbeitern ist im Hafen von Kapstadt damit beschäftigt, einen Berg von Kisten in den Laderaum der „Edinburgh“ zu verfrachten. Ich frage mich, wie sie es anstellen, diese Unmengen in dem alten Kahn unterzubringen, der geradewegs einem Comic entsprungen zu sein scheint. Die „Edinburgh“ ist eines von zwei Schiffen, die zwischen Tristan da Cunha und Südafrika verkehren.

Ich hatte noch nie von der Südatlantikinsel gehört, bis ich von dem französischen Entdecker Raymond Rallier du Baty las, der 1907 dort einen Stopp einlegte. Das erregte meine Aufmerksamkeit, und ich grub ein bisschen. Auf Tristan da Cunha soll eine Gesellschaft geherrscht haben, von der Philosophen immer geträumt haben. Es gebe weder Hass noch Neid oder Bosheit unter ihnen. Sie alle helfen sich geschwisterlich gegenseitig. Ihnen fehlten die Laster der Zivilisation. Keine Klassenunterschiede, keine Reichen, keine Armen … Je mehr ich über die Insel erfuhr, desto mehr wusste ich, dass ich da hinmusste.

Beim Zoll treffe ich auf die Gruppe der Passagiere, die mit dem Schiff nach Tristan da Cunha übersetzen wollen. Neun Leute insgesamt: sechs Inseleinwohner, ein Elektriker aus Kapstadt und eine Sozialarbeiterin aus Liverpool. Und ich natürlich. Meine Kajüte, das sind drei Quadratmeter, die nach Motoröl und abgestandener Luft riechen. Ein Bullauge, eine Koje mit zwei Betten übereinander, eine Sitzbank, ein Tischchen mit rutschfester Oberfläche, ein Waschbecken. Die Leinen werden gelöst, und ein Schlepper besiegelt unsere Trennung vom afrikanischen Kontinent. Die Überfahrt soll sieben bis neun Tage dauern, je nach Wetterbedingungen. Die bunten Lichter von Kapstadt entfernen sich, wir tauchen in eine mondlose Nacht ein, begleitet vom Monolog der Maschinen und des Windes. Obwohl man ziemlich beengt liegt in der Koje, schlafe ich tief, vom Ozean gewiegt.

Sonntag
Ich sitze in meiner Kajüte über meinen Notizbüchern, als einer der Matrosen an meine Tür klopft. Anscheinend lässt mich der Kapitän rufen, weil Wale gesichtet wurden. Ich lasse alles stehen und liegen und stürze los, doch bis ich über die Gänge und Treppen das Oberdeck erreicht habe, sind sie bereits verschwunden. So ein Pech, gestern ist mir genau dasselbe mit den Delfinen passiert. Ähnlich geht es mir mit den Tristanern an Bord. Ich weiß, dass sie in der Nähe sind, aber ich bekomme sie kaum zu Gesicht. Seit der ersten Mahlzeit vor dem Ablegen, bei der noch alle vollzählig versammelt waren, sind sie in ihren Kajüten verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Möglicherweise ist es die Angst vor Seekrankheit, die sie in ihren Kajüten hält, oder aber sie wollen sich nicht unter die Fremden mischen. Irgendwo habe ich gelesen, dass die Alten bei jeder Ankunft eines Schiffs in Tristan, im Schnitt also alle zwei Monate, ihre Häuser für einige Tage nicht verlassen, um so zu vermeiden, sich irgendeine vom Kontinent eingeschleppte Krankheit einzufangen. Sollte das der Grund sein, weshalb sie sich so rar machen?

Montag
Am Morgen des dritten Tages lässt sich ein Tristaner beim Frühstück blicken. Der frühere Seemann, massiges Gesicht, windgegerbte Haut, verkündet mit erhobener Stimme, dass sich der Wind gedreht habe und nun von vorn komme. Daher habe das Schiff zu stampfen begonnen. Ich mime den Wissenden, der das auch schon bemerkt hat, dabei leuchtet es mir nicht ganz ein. Zurück in meiner Kajüte, spüre ich eine plötzliche Übelkeit und lasse mich in meine Koje fallen. Es dauert nicht lang, bis ich mein Frühstück wieder zu Gesicht bekomme. Der alte Seebär hatte recht behalten, und zum ersten Mal in meinem Leben erlebe ich die Freuden der Seekrankheit. Ich, der ich immer geglaubt hatte, ich sei in dieser Hinsicht nicht so empfindlich … Dabei ist das Meer gar nicht so aufgewühlt, aber gut. Ich schlafe zwölf Stunden am Stück und verbringe den Tag, ohne zu essen und zu rauchen. Am nächsten Morgen sind meine gute Laune und mein Appetit zurückgekehrt. Und das, obwohl die See auch in guter Form zu sein scheint und unser Schiff in alle nur denkbaren Richtungen bewegt. Es rockt und rollt, der Seegang gibt den Rhythmus vor. Ich strecke meinen Kopf aus dem Bullauge, die Gischt peitscht mir ins Gesicht, der Wind, die Eiseskälte. Herrlich.

Freitag
Die Überfahrt geht dem Ende entgegen. Das Meer hat sich beruhigt, das Wetter und die Sicht sind ausgezeichnet. Um halb zwölf sieht man die Insel endlich. Ein dunkler Fleck, ganz weit hinten. Wir werden noch Stunden brauchen, um dort anzukommen. Wir haben nur wenig Verspätung, also ist das Ganze recht gut gelaufen. Es ist noch nicht so lange her, berichtet man mir, dass die „Baltic Trader“ nach neun Tagen Überfahrt wegen schlechten Wetters nicht habe vor Anker gehen können. Das Schiff habe daraufhin bei Inaccessible Island Schutz gesucht. Doch nachdem zwei Wochen lang keine Wetterberuhigung eingetreten sei, habe man die Rückfahrt antreten müssen, ohne Tristan da Cunha angelaufen zu haben. Das ist es, was zum Charme dieser Insel gehört und ihren Mythos begründet hat. Man weiß zwar ungefähr, wann man dorthin aufbricht, aber man kann nie sicher sein, wann und ob man überhaupt dort hingelangt.

Aus dem Französischen von Andreas Gressmann
 

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mare No. 144

mare No. 144Februar / März 2021

Von Richard Pak

Richard Pak, Jahrgang 1972, lebt in Paris und ist ein multidisziplinärer Künstler, der aus der Fotografie kommt und diese mit Videosequenzen und Textmaterialien kombiniert. Er interessiert sich für den Alltag der Menschen und ihren „Kampf ums Leben“, aber auch für Landschaftsfotografie. Diese Fotoserie, die im Lauf dreier Monate auf Tristan da Cunha entstand, bildet den Auftakt seiner Anthologie über Insularität.

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Vita Richard Pak, Jahrgang 1972, lebt in Paris und ist ein multidisziplinärer Künstler, der aus der Fotografie kommt und diese mit Videosequenzen und Textmaterialien kombiniert. Er interessiert sich für den Alltag der Menschen und ihren „Kampf ums Leben“, aber auch für Landschaftsfotografie. Diese Fotoserie, die im Lauf dreier Monate auf Tristan da Cunha entstand, bildet den Auftakt seiner Anthologie über Insularität.
Person Von Richard Pak
Vita Richard Pak, Jahrgang 1972, lebt in Paris und ist ein multidisziplinärer Künstler, der aus der Fotografie kommt und diese mit Videosequenzen und Textmaterialien kombiniert. Er interessiert sich für den Alltag der Menschen und ihren „Kampf ums Leben“, aber auch für Landschaftsfotografie. Diese Fotoserie, die im Lauf dreier Monate auf Tristan da Cunha entstand, bildet den Auftakt seiner Anthologie über Insularität.
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