Die Hedonisten von der Krim

Balaklawa ist eine der schönsten Meeresbuchten unseres Planeten. Es könnte das Saint-Tropez der Krim sein – wären da nicht Russlands Mili­tär und Wladimir Putin

Ach je, das ist alles nicht so einfach! Beginnen wir am Ende. Ich verließ Balaklawa mit dem Gefühl, dass sie, wie auch die ganze Krim, ihrer Mentalität nach nie der Ukraine gehört hat, dass sie aber auch nie endgültig Russland gehören wird. Die Krim ist die Krim, das heißt, gefühlsmäßig gehört sie zusammen mit Balaklawa sich selbst. Sie ist faktisch eine isolierte Insel im Schwarzen Meer. Und obwohl die Krim, durch eine schmale Landenge ans Festland gebunden, geografisch eine Halbinsel ist, nannte mein alter Freund, der russische Schriftsteller Wassili Axjonow, seinen Ro- man, der in der späten Sowjetzeit erschienen ist, nicht zufällig „Die Insel Krim“. Eine Insel mit einzigartigem Schicksal.

Und Balaklawa ist eine besonders harte Nuss. Voller Legenden, Seeschlachten, schöner Strände, Unterseeboote mit Atomraketen, Schaumweine und Rockfestivals. Versuche mal, sie zu knacken!

Balaklawa ist eine enge Bucht, verschlungen wie die Gehirnwindungen eines Schelms, vom Meer nicht einsehbar. Sie ist außerdem eine bei Touristen be- liebte Stadt, die heute zur Peripherie von Sewastopol zählt. Ihre Geschichte erinnert mich an eine turbulente menschliche Biografie, allerdings mit einer Dimension von tausend Jahren. So, dass man gern erwähnen möchte, wie viele Männer sie hatte, bevor sie Sewastopol geheiratet hat!

Die einen nahmen sie als Geisel, anderen gab sie sich freiwillig und fröhlich hin. Geboren wurde sie auf der Erde wilder Taurer und Laistrygonen, die in dem Ruf standen, unersättliche Menschenfresser zu sein. Der große Homer, der seinen Odysseus in die Bucht sandte, hat sie besungen. Die alten Griechen, die sie eroberten, gaben ihr den Namen Symbolon.

Dann waren die Römer da, nach ihnen die Goten (weshalb Hitler die Krim nach der Einnahme „Gotengau“ nennen und dem Dritten Reich einverleiben wollte). Dann geriet sie in die Hände der Genueser, die sie Cembalo nannten; die Ruinen der Genueser Festung schmücken bis heute die felsige Landschaft. Danach wurde sie von den Türken erobert, die ihr den heutigen Namen gaben, der sich mit „Fischbecken“ übersetzen lässt. Die Saporoger Kosaken verdrängten die Türken, die kamen aber wieder zurück.

1773 schließlich eroberte das Russische Kaiserreich die Krim, und Katharina II. bezeichnete Balaklawa nach einem Besuch dort als „Schlüssel zur Krim“. Ab diesem Moment fanden wir Russen, die Krim sei „unser“, und – die Kriege der folgenden Jahrhunderte lasse ich jetzt geflissentlich weg – nachdem die Sowjetunion zerfallen und die Krim in der Ukraine gelandet war, wollte sich Präsident Putin nicht mit dieser Situation abfinden und entriss 2014 die Krim dem Nachbarland unter Missachtung des Völkerrechts, donnerndem Beifall meiner Landsleute und einem Aufschrei der Empörung in der westlichen Welt.

Aus genau diesem Grund fuhr ich diesmal mit großer Unentschlossenheit und voller Zweifel auf meine geliebte Krim. Wozu sollte ich mich verstellen? Ich reiste zu einem Rendezvous mit Balaklawa, einer der bezauberndsten natürlichen Buchten auf dem Planeten. Wäre ihre Geschichte weniger turbulent gewesen, hätte sie sich nicht schlechter als Saint-Tropez entwickeln können, und die Luxusyachten ihrer Marina könnten mit den Yachten von Miami konkurrieren. Doch Balaklawa ereilte ein trostloses Schicksal. Balaklawa – das ist blendende Schönheit, multipliziert mit Kanonenkugeln und Blut längst vergangener Seeschlachten sowie Bergen von Leichen aus neueren Kriegen. Als die Wehrmacht 1942 nach erbitterten Kämpfen Sewastopol schließlich einnahm, verkündete das deutsche Oberkommando, man habe die am schwersten einzunehmende Festung der Welt erobert.

Ich gehöre zu jenen beinahe übersehbaren zwei Prozent der russischen Bevölkerung, faktisch eine statistische Abweichung, die sich gegen die Annexion der Krim ausgesprochen haben. Alle jubelten, warfen ihre Kinder in die Luft, schrien „Die Krim ist unser!“ – im ganzen Land. Ich bin bis heute überzeugt davon, dass dieses „Die-Krim-ist-unser“ für uns ein Dauerschmerz sein wird, für viele Jahre der Grund für den Bruch mit dem Westen, eine ökonomische Katastrophe durch wachsende Isolation.

Dennoch riskierte ich es, nach Balaklawa zu reisen, denn ich war besorgt um die Krim, so wie man sich um die Gesundheit eines nahestehenden Menschen sorgt. Ich wollte eine Kranke besuchen, die in eine Katastrophe geraten ist. Ich machte mich auf die Reise, buchstäblich mit aufgesetzter Mitleidsmaske. Und was habe ich vorgefunden? Wie hat mich die Kranke empfangen? Ich bin sicher, dass Balaklawa noch auf dem Totenbett auf jeden ihrer Siege und jeden Kriegsorden stolz sein und die Lippen zusammenpressen wird, weil sie von Niederlagen nichts hören will. Wie erging es ihr unter der Ukraine? Totale Amnesie! Ich habe in Balaklawa keine Spur von ukrainischer Herrschaft bemerkt. Balaklawa war auch unter der Ukraine eine russischsprachige Stadt, ebenso wie Sewastopol, ja, letztlich die gesamte Krim. Nur die ganze offizielle Topografie, die Bezeichnungen der Straßen, Verwaltungsgebäude, Museen – in ukrainischer Sprache. Jetzt ist alles abgeschraubt, nichts davon übrig (obwohl das Ukrainische neben dem Krimtatarischen offiziell als Regionalsprache der heutigen Krim gilt). Überall in dieser Gegend ist das weiche südrussische Idiom vorherrschend, in dem hin und wieder ukrainische Wörter vorkommen.

Balaklawa spielte nicht nur die Genesende. Sie tat so, als sei die Krankheit völlig an ihr vorbeigegangen, als habe alles, was mit ihr passiert ist während des Machtwechsels, der die zivilisierte Welt erschüttert hat, ihre Seele nicht tangiert.

„Halt, halt!“, schrie ich auf. „Genau hier in Balaklawa hat sich doch Janukowitsch versteckt, bevor er in Putins Russland geflüchtet ist!“ – „Schon gut“, antwortet mir betont gleichgültig Alexander Fedotowitsch, ein altgedienter Fremdenführer älteren Semesters. „Da hinten an der Uferstraße steht sein Haus.“

Und so oft ich auch versucht habe, nach dem Leben unter der Ukraine zu fragen, ich habe weder von dem Fremdenführer noch von sonst irgendjemandem ausführlichere Antworten erhalten. Ob aus Angst oder was auch immer. Ich würde sagen, dass meine Gesprächspartner die ukrainische Periode als historisches Missverständnis im Herzen bewahren, denn die blutige Geschichte Balaklawas ist eng mit der russisch-europäischen Konfrontation verbunden, und da ist die Ukraine bestenfalls ein zweitrangiger Akteur. 

Während man längst vergangene Kriege unter „russischer Sieg und Eroberung der Krim“ abhakt, ist der Krimkrieg der 1850er-Jahre, vor allem aber der Krieg gegen Hitler keineswegs Geschichte, sondern hat für Balaklawa buchstäblich ges- tern stattgefunden.

Alexander Fedotowitsch führt mich in ein vollkommen ebenes, an die fernen Berge grenzendes Tal bei Balaklawa. „Bitte“, sagt er, „das Tal des Todes.“ Das Tal des Todes ist bezaubernd schön, ganz in herbstliches Weinlaub gekleidet.


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mare No. 138

mare No. 138Februar / März 2020

Von Viktor Jerofejew und Dmitrij Leltschuk

Aus dem Russischen von Beate Rausch

Viktor Jerofejew, Jahrgang 1947, führender russischer Schriftsteller, Essayist und Kosmopolit, freute sich bei seinen Recherchen über ein Geschenk, das den Begriff Balaklawa in alle Welt getragen hat: die gleichnamige Sturmkopfhaube mit Sehschlitz.

Dmitrij Leltschuk, geboren 1975 in Minsk, Weißrussland, ist freier Reportagefotograf in Hamburg. Man ließ ihn auf seiner Reise gelegentlich unangenehm spüren, dass er kein Putin-Freund ist.

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Vita Aus dem Russischen von Beate Rausch

Viktor Jerofejew, Jahrgang 1947, führender russischer Schriftsteller, Essayist und Kosmopolit, freute sich bei seinen Recherchen über ein Geschenk, das den Begriff Balaklawa in alle Welt getragen hat: die gleichnamige Sturmkopfhaube mit Sehschlitz.

Dmitrij Leltschuk, geboren 1975 in Minsk, Weißrussland, ist freier Reportagefotograf in Hamburg. Man ließ ihn auf seiner Reise gelegentlich unangenehm spüren, dass er kein Putin-Freund ist.
Person Von Viktor Jerofejew und Dmitrij Leltschuk
Vita Aus dem Russischen von Beate Rausch

Viktor Jerofejew, Jahrgang 1947, führender russischer Schriftsteller, Essayist und Kosmopolit, freute sich bei seinen Recherchen über ein Geschenk, das den Begriff Balaklawa in alle Welt getragen hat: die gleichnamige Sturmkopfhaube mit Sehschlitz.

Dmitrij Leltschuk, geboren 1975 in Minsk, Weißrussland, ist freier Reportagefotograf in Hamburg. Man ließ ihn auf seiner Reise gelegentlich unangenehm spüren, dass er kein Putin-Freund ist.
Person Von Viktor Jerofejew und Dmitrij Leltschuk