„Die Grossartigen Elf“

Legendär: Elf von 106 D-Day-Bildern des Kriegsfotografen Capa überstanden ein Malheur in einer Londoner Dunkelkammer

Seit Februar waren die Nächte ruhig geblieben, aber in London herrschte in jenem schicksalhaften Frühjahr 1944 immer noch strenge Verdunkelung. In den Straßenlaternen spiegelte sich allein der Mond. Wenn es dunkel wurde, zogen wir dicke Vorhänge vor die Fenster. Im Februar hatten Nacht für Nacht bis zu 100 deutsche Flugzeuge im sogenannten Little Blitz Bomben über der Stadt abgeworfen. Offiziellen Angaben nach hatte der Luftkrieg bis dahin 50 324 Tote und 163 075 Verwundete gekostet.

Ich war Bildredakteur im Londoner „Life“-Büro und hatte im West End meine Wohnung. Das Ehepaar unter mir, Lloyd und seine Frau, versorgte mich großartig. Lloyd war professioneller Toastmaster bei Staatsempfängen gewesen, und bei Fliegeralarm rief er zu mir hinauf: „Sir, hätten Sie Lust auf eine Tasse Tee?“ Was nichts anderes bedeutete, als dass ich mich schleunigst nach unten in die Küche im Souterrain zu begeben hatte.

Dienstag, der 6. Juni, begann trist und grau wie jeder andere Tag, bis auf die Tatsache, dass es kälter war, als man in London im Juni erwarten durfte. Gegen acht läutete der Wecker. Ich ging ans Fenster, zog die Verdunklungsvorhänge zur Seite und sah hinab auf die menschenleere Straße. Dann kochte ich mir eine Tasse Tee und schaltete das Radio ein.

Um 9.30 Uhr verlas die BBC folgende Meldung: „Unter dem Oberkommando von General Eisenhower haben die Seestreitkräfte der Alliierten, unterstützt von starken Luftverbänden, an diesem Morgen mit der Landung alliierter Truppen an der Nordküste Frankreichs begonnen.“

Im Herbst 1943, in der schlimmsten Phase des Krieges, war ich freiwillig nach London gegangen und hatte meine Frau, meine Tochter und einen gesunden Embryo zurückgelassen. Jetzt hatte ich einen sechs Monate alten Sohn, den ich noch nie gesehen hatte. Meine Frau und ich hatten uns gefasst und ohne Tränen in der Grand Central Station voneinander verabschiedet. Ich fuhr ins kanadische Saint John in New Brunswick, wo ich einen kleinen norwegischen Frachter bestieg. Der Kapitän zog es vor, nicht im Konvoi zu fahren, auch wenn es ihn zu einem Umweg bis fast zu den Azoren zwang, ehe wir in Liverpool anlegten.

Mein Job in London, wie man mir unmissverständlich bei einem letzten Drink in der „Men’s Bar“ des Hotels „Waldorf Astoria“ mitgeteilt hatte, bestand darin, Bilder der bevorstehenden Invasion des europäischen Kontinents zu liefern. In der Zeit vor dem Fernsehen nannte „Life“ sich „Amerikas einflussreichstes publizistisches Organ“. Wir waren schamlose Propagandisten des alliierten Kriegseinsatzes. Man hatte mir ein exzellentes Team von sechs Fotografen zur Seite gestellt, um über den großen Tag zu berichten.

Wie sich herausstellte, war ich acht Monate zu früh. Dadurch hatten wir jede Menge Zeit für anderes – Reportagen über die Anglikanische Kirche und Westminster, Berichte über eine Nachwahl in Derbyshire, die Wahl zur Miss London.

Aber wir hatten auch unseren Spaß. Wir aßen gut auf Spesen und bekamen die gleichen Zigarettenrationen wie die Offiziersgrade – Kriegskorrespondenten hatten im Fall einer Gefangennahme den übertragenen Rang eines Hauptmanns. Es gab Einladungen zum Mittagessen im „White Tower“ und Partys im „Dorchester“. Die denkwürdigste Party war die von Robert Capa, dem legendären Kriegs- fotografen, zu Ehren seines Freundes „Papa“ Hemingway, der Korrespondent für „Collier’s“ war. Sie hatten gemeinsam über den Spanischen Bürgerkrieg berichtet. Die Party ging bis vier Uhr früh, als die Bowle ausging. „Papa“ landete im Krankenhaus, nachdem der Fahrer des Wagens, der ihn nach Hause brachte, in einen Wasserspeicher krachte.


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mare No. 103

No. 103April / Mai 2014

Von John G. Morris, Fotografien von Robert Capa

John Godfrey Morris, 1916 in New Jersey geboren, ist eine der wichtigsten Figuren des Fotojournalismus. Er arbeite viele Jahre als Bildredakteur bei Life, später für die Fotoagentur Magnum, die Washington Post und die New York Times. Er lebt in Paris.

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Vita John Godfrey Morris, 1916 in New Jersey geboren, ist eine der wichtigsten Figuren des Fotojournalismus. Er arbeite viele Jahre als Bildredakteur bei Life, später für die Fotoagentur Magnum, die Washington Post und die New York Times. Er lebt in Paris.
Person Von John G. Morris, Fotografien von Robert Capa
Vita John Godfrey Morris, 1916 in New Jersey geboren, ist eine der wichtigsten Figuren des Fotojournalismus. Er arbeite viele Jahre als Bildredakteur bei Life, später für die Fotoagentur Magnum, die Washington Post und die New York Times. Er lebt in Paris.
Person Von John G. Morris, Fotografien von Robert Capa