Die Frau, die keine purpurnen Hosen besaß

Das Leben der Ingenieurin Klawdia Fomina auf der weltgrößten Bohrinsel im Kaspischen Meer

Ich war eine schöne Frau. Und doch war ich immer allein. Ich habe bald mein gesamtes Leben auf dieser Insel verbracht. Ich war die erste Frau auf der Bohrinsel. Sie hat meine Jugend genommen, meine besten Jahre. Ich habe mit ihr Leid geteilt und Glück. Ich habe sie wachsen sehen, seit 46 Jahren, dann verrotten und versinken, und vielleicht erlebe ich es ja, dass sie wieder erblüht. Ich werde wohl auf der Insel arbeiten, bis zu meinem letzten Atemzug. Jetzt bin ich alt. 70 Jahre. Es war ein schönes Leben auf den Ölfelsen. Ich habe mich mit dieser Bohrinsel verheiratet. Das habe ich nie bereut. In meinem Leben gab es sowieso nur drei wichtige Männer, alle anderen haben mich nicht interessiert. Zuerst kommt Gott. Gott wird immer bei mir sein; er war es auch, als ich als Parteiinstrukteurin am stürmischen Abend des 30. Dezember 1955 vom Schiff auf die paar Felsen hier abstieg. Später, 1965, traf ich dann in Baku den sowjetischen Regisseur von „Carmen“, verzeihen Sie, ich habe seinen Namen vergessen, er ist dann ja auch bald gestorben. Und dann sah ich in Moskau Leonid Iljitsch Breschnew, das war am 8. August 1974. Er hat damals mein Leben in 13 Minuten wieder in Ordnung gebracht.

Hören Sie die Wellen unter meinem Balkon? Sie sind überall. Im Norden, im Süden, im Westen und im Osten. Ich bin ein Kind des Kaspischen Meeres. Ich möchte nirgendwo anders als auf dieser Ölinsel gelebt haben. In Moskau war ich nur ein einziges Mal. Was hätte ich dort außer meiner Schönheit schon gehabt? Die Wellen? Die Stürme? Meine Kameraden?

So gesehen hat Klawdia Fomina, die so sehr Wellen und Stürme liebt und an Gott glaubt, sicherlich Recht: Mit den Stürmen und den Wellen wäre es in Moskau wahrscheinlich kaum etwas geworden, und sie hätte auch nicht den Salzgeruch des Meeres gehabt und den Ölgestank, das Hämmern, Pochen, Pumpen der Stahlsaurier und technoiden Totempfähle und die eisenbetonhaltige Akne auf dem Antlitz des Kaspischen Meeres – diese rostzerfressene Hybris der Arbeiterklasse, Neftyanje Kamnje, die „Ölfelsen“ vor der Küste Aserbaidschans. Ein Wunderwerk, die weltgrößte künstliche Insel, erbaut ab 1948 auf Öl abgebenden Felsen und den Wracks von sieben geschlachteten Schiffen. Wunderwerk und Arbeitsplatz und Heimat. Heimat und Hohelied Stalinschen Aufbauwahns.

Eine Heimat für 5000 Menschen, die in Hochhausblocks wohnen und kleinen Hütten, die sogar Vorgärten und Hühnergatter hatten, bevor der Verfall alles in die Tiefe riss, ins Meer, das unter der Insel gurgelt und ächzt und erzürnt grollt und das an ihr frisst, an ihren Traversen, Stelen, Pylonen, Plattformen, Auslegern, Brücken. Denn diese Insel ist nicht wie eine Insel, sondern wie das Stahlgeflecht einer Riesenspinne, das sich, von den Ölfelsen beginnend, ausgebreitet hat rings ins Meer: monströs und überheblich und wunderschön.

Im Zentrum liegt der schmutziggelbe Betonleib der Riesenspinne Neftyanje Kamnje. Das Meer ist hier besonders flach; poröse, ölhaltige Felsen ragen weit verteilt über die Oberfläche, also betonierte man dieses Areal einfach zu, pflanzte die ersten Bohrtürme auf und legte Pipelines. Und die Spinne begann ihr Netz zu spinnen. Es reichte 20 bis 30 Kilometer in jede Richtung, hatte einst 300 Kilometer Straße ausgelegt, jetzt sind es noch die Hälfte. Viele hundert Plattformen, verbunden durch stählerne Brücken auf Roststelzen, gelegentlich einige Felsen, die hier, 120 Kilometer von Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, und 60 Kilometer vom Festland entfernt aus dem Wasser ragen. Das ist zuweilen regenbogenfarben, wegen des Öls.

Oder lederrot, wegen des Rostes, oder es hat weiße Spitzen, denn es stürmt hier häufig. Der Betonleib dieser Riesenspinne besteht aus einem Verwaltungsgebäude, zwei Wohnheimen für Männer, je fünfstöckig, und einem für Frauen, das hat neun Etagen. Samt einem Friseur, einer kleinen Kantine mit einem verschlafenen Kellner und einer missgelaunten Köchin, einer Bibliothek mit einer sanftmütigen Leiterin und einem ewig betrunkenen, fuchsgesichtigen Redakteur, der hier seine zweiwöchentliche Inselzeitung produziert und der mehr Goldzähne hat als gewachsene. Und in diesem Wohnhaus, dessen Fundamente meerwasserzerfressen sind, wohnt im sechsten Stock in einem spartanischen Zimmerchen Klawdia Fomina.

Nun steht sie auf dem Balkon. Ihre schmale Gestalt scheint dem Wind keinen Widerstand zu bieten. Sie trägt einen grauen Dutt auf dem Kopf, sie hat eine Perlenkette über den Rollkragenpullover angelegt, der die Altersfalten verbergen soll. Eine fein geschnittene Nase und ein kluger Kopf und edle Hände, man kann den Moskauer Regisseur von „Carmen“ gut verstehen, damals, vor fast 40 Jahren, Gott sei seiner Seele gnädig. Warum nur ist diese Frau nicht zum Film gegangen? Warum nur ist sie seit 40 Jahren Bauingenieurin, hat Lagerhallen gebaut und Werkstätten und Traversen?


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mare No. 31

No. 31April / Mai 2002

Von Volker Handloik und Alex Webb

Volker Handloik, geboren 1961, starb am 12. November des vergangenen Jahres bei einer Reportage für den Stern in Afghanistan. In der mare-„Kombüse“ auf Seite 36 finden Sie seinen Beitrag über ein Restaurant im chilenischen Teil von Patagonien.

Alex Webb, Jahrgang 1952, ist Mitglied der Pariser Fotografenagentur Magnum. In mare No. 28 fotografierte er die Palolosammler in der Südsee.

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Vita Volker Handloik, geboren 1961, starb am 12. November des vergangenen Jahres bei einer Reportage für den Stern in Afghanistan. In der mare-„Kombüse“ auf Seite 36 finden Sie seinen Beitrag über ein Restaurant im chilenischen Teil von Patagonien.

Alex Webb, Jahrgang 1952, ist Mitglied der Pariser Fotografenagentur Magnum. In mare No. 28 fotografierte er die Palolosammler in der Südsee.
Person Von Volker Handloik und Alex Webb
Vita Volker Handloik, geboren 1961, starb am 12. November des vergangenen Jahres bei einer Reportage für den Stern in Afghanistan. In der mare-„Kombüse“ auf Seite 36 finden Sie seinen Beitrag über ein Restaurant im chilenischen Teil von Patagonien.

Alex Webb, Jahrgang 1952, ist Mitglied der Pariser Fotografenagentur Magnum. In mare No. 28 fotografierte er die Palolosammler in der Südsee.
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