Die Flut

Eine Kurzgeschichte

Seit er von einem Morgen bis zum darauffolgenden ununterbrochen in dem kleinen Käfig kauern konnte, ohne dass seine Glieder einschliefen, hatte er nicht mehr geübt. Von da an hatte er gewartet, viele Tage lang, während derer der Sommer immer höher den Berg hinaufstieg, und hatte das Meer beobachtet.

An dem Abend, an dem er sich entschied, saß er zuerst lesend auf den Kissen vor den niedrigen Fensterreihen. Dann starrte er in die ins Meer tauchende Sonne, trug später ihren grünen Widerschein auf seiner Netzhaut über das in der Dämmerung schwarze Meer und lag, den Kopf auf den Armen und nur manchmal im kühlen Nachtwind fröstelnd, die ganze Nacht lang ohne Bewegung im Fenster. Er versuchte nicht zu schlafen, er fürchtete die Müdigkeit nicht, er wusste, sie würde im richtigen Moment vergehen.

Das erste Licht der Morgendämmerung zeigte ihm weit unten am Strand die noch dunkle Flut, die ihren höchsten Punkt gerade überschritten hatte. Er zog sich aus und legte seine Kleider über die Kissen, dorthin, wo auf dem Boden bereits seine Sandalen standen. Im Hinaustreten nahm er einen Schlüssel, der neben der Tür zur Veranda an einem Haken hing, und den Käfig: Der war nicht ganz kniehoch, ebenso breit wie hoch und etwa doppelt so lang, mit einem Boden aus Holz und fingerdicken, bronzenen Gitterstäben, zwischen denen kaum eine Hand hindurchgreifen konnte. Dann stand er nackt, den Schlüssel in der einen Hand, den Käfig an seinen oberen Gitterstäben in der anderen tragend, auf der dem Berg zugewandten Veranda; schließlich drehte er sich um und ging durch den schütteren Wald hinunter zum Strand.

Als er unten ankam, sah er im nun fast vollständigen Morgenlicht das Meer nur als dunklen Streifen am Horizont. Er ging ihm entgegen, so weit, dass er sich umwendend den Waldsaum gerade noch erkennen konnte, und setzte den Käfig vor sich auf den Sand, die Seitenwand, die die Tür bildete, sich zugewandt. Er öffnete ihn; einige Schritte entfernt vergrub er den Schlüssel tief im Sand, dann zwängte er sich mit geschickten Bewegungen in den Käfig. Der war von allen Seiten etwas zu klein für ihn, so dass er den Kopf nach unten und zur Seite drehen musste; er tat es mit dem Meer zugewandtem Gesicht. Schließlich zog er die Tür zu sich heran, die mit einem leisen Klicken ins Schloss fiel.

Anfangs fröstelte er. Aber am frühen Vormittag kam die Sonne hinter dem südlichen Felsenhang des Berges hervor, und bald musste er vor dem gleißenden Gelb des Sandes die Augen schließen. Er genoss das helle Rot, das durch seine Lider drang, genoss die Wärme der Sonne in seinem Körper und den starken Druck des Gitters auf seinen Schultern und Armen und auf seinem Rücken, genoss das Wissen, dass die Stäbe fest miteinander verschweißt und unlösbar im Holzboden verankert waren, dass das Schloss, das er mit der Hand ertasten konnte, jedem Öffnungsversuch widerstehen würde, und er genoss, dass er noch Stunden so in sich zusammengepresst und zu fast keiner Bewegung fähig hier kauern würde. Gegen Mittag, als unter der Hitze der Sonne der Schweiß seine Haut hinabperlte, begann in zusammenhanglosen Träumen der Käfig zu schrumpfen, langsam ihn immer fester zusammendrückend, oder schwamm auf unendlichen, wild schäumenden Meeren, sank in den Wellen unter, so dass er in wildem Überlebenskampf den Käfig zu sprengen versuchte und seine Lungen voll mit Wasser pumpte, tauchte im letzten Moment wieder auf, wenn er, mit letzter Kraft nach Atem ringend, dem Ertrinken nahe gewesen war. Zwischendurch blinzelte er kurz in den Sand, schloss dann die Augen wieder, und spürte der allmählich wachsenden Verzweiflung nach, die jetzt, zum ersten Mal in seinem Leben, echt war.

Am späten Nachmittag frischte der Wind auf. Dunkle Wolken zogen vor der Sonne vorbei landeinwärts, in immer dichteren Massen allmählich den ganzen Himmel verdeckend. Unter den ersten Regentropfen, die kühl auf seine Haut fielen, schreckte er auf; seinen unwillkürlichen Versuch, sich zu strecken, verhinderte das Gitter, und sofort träumte er sich in Ströme von Regen, die ihn mit unaufhaltsam steigendem Wasser umgaben. Dann sah er in der Ferne den dunklen Streifen der sich nähernden Flut. Einen Augenblick verharrte er, den Blick auf den Horizont gerichtet, nicht lange, seine Hand tastete nach dem Schloss und fühlte unter der Nässe des Regens glattes Metall und ein Schlüsselloch, das viel zu klein für seine Finger war. Wieder starrte er auf den noch fernen Streifen, befühlte wieder das Schloss, versuchte mit dem Finger das Metall zurückzubiegen, stemmte sich schließlich mit aller Kraft gegen die Tür. Vor Anstrengung keuchend, hielt er erst inne, als der erste Ausläufer der Flut am Holz des Käfigbodens leckte. Der Regen hatte aufgehört, und seine weit aufgerissenen Augen folgten den herannahenden und sich wieder entfernenden, mit jedem Herandringen wachsenden Wellen, die der Wind in kräftigen Böen vom Meer herwehte. Dann stemmte er die Schienbeine gegen den Boden, versuchte den Körper zu bewegen, um das Gitter aus dem Boden herauszulösen, und während er immer heftiger seinen Rücken gegen die Stäbe presste, überraschte ihn die erste Welle, die sein Gesicht überschwemmte.

mare No. 35

No. 35Dezember 2002 / Januar 2003

Von Arn Aske

Arn Aske, Jahrgang 1962, ist Schriftsteller und Komponist und lebt in Berlin.

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Vita Arn Aske, Jahrgang 1962, ist Schriftsteller und Komponist und lebt in Berlin.
Person Von Arn Aske
Vita Arn Aske, Jahrgang 1962, ist Schriftsteller und Komponist und lebt in Berlin.
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