Alan Beale, der Pilot des Schlauchboots, auf dessen breitem Rücken sich der Schriftzug „Sealand Security“ voll entfalten kann, schiebt den Gashebel zurück. Wir sind angekommen, sieben Meilen entfernt von Felixstowe an der englischen Ostküste. Oben, 15 Meter über dem Wasser, strecken zwei Gestalten ihre Köpfe über den Rand. Der Arm eines Krans schwenkt aus und lässt einen Haken sinken. Wer Sealand auf dem Seeweg besucht, wird hochgehievt. Denn keine Leiter, kein Seil ist für einen Aufstieg vorhanden. Gesichert ist es auch gegen ungebetene Gäste aus der Luft. Eine auf dem Helikopterlandeplatz senkrecht aufgerichtete Stange wirkt wie ein überdimensionaler Spieß.
Sealand ist eine Festung, war es eigentlich immer schon. Nur stammt die Bedrohung heute nicht mehr von deutschen Bombern, zu deren Abwehr die Plattform im Zweiten Weltkrieg gebaut und mit Kanonen bestückt worden war. Die Gegner sind heute eher britische Behörden und aggressive Geschäftspartner.
Wetter und Gezeiten haben der künstlichen Insel zugesetzt. Stahlplatten scheppern, und zuweilen klingt es verdächtig hohl. Trotzdem haftet den Betonsäulen mit ihren sieben Metern Durchmesser und der Konstruktion darauf etwas Grandioses an: ein im Handstreich genommenes Territorium, das 1967 kurzerhand zum autonomen Fürstentum erklärt wurde.
Hier gibt es keine Verkehrsregeln, keine Steuerverordnungen, kein Strafgesetz. Erlaubt ist, was den Fürsten Roy of Sealand – bürgerlich Roy Bates – nicht stört. Wobei dieser ohnehin die meiste Zeit landesabwesend ist und von seinem Sohn, Michael of Sealand, vertreten wird.
Dieser scheint für das Management vor Ort richtig gebaut zu sein: gedrungene Figur, kurz geschorenes Haar, ein Bulle von einem Mann, mit dem man es sich nicht verderben möchte. Freundlich führt Michael die Gäste durch sein Herrschaftsgebiet.
Im Inneren der Aufbauten, die doch immerhin den Fürstenpalast repräsentieren, öffnet er den Besuchern alle Türen: die zur Küche, an deren Decke zwei Plüschpapageien hängen und die aussieht wie Küchen, die nur von Männern benutzt werden; oder die Tür – eher eine stählerne Luke – zum Wohnzimmer der fürstlichen Familie. Hier hängt an der Wand, übergroß, die Flagge Sealands, darunter ausgesessene Möbel. Das Ganze verströmt die Gemütlichkeit einer Zelle.
Diese Atmosphäre wird nur noch von der Kammer des Sicherheitschefs Alan überboten. An der Wand ein ungemachtes Bett, in einer Ecke eine gelbe Pressluftflasche für Taucheinsätze. Am Schlüsselbrett hängen Handschellen, und auf dem Tisch liegt, gebettet auf Patronen, ein Gewehr. Alan würde es benutzen, und zwar gegen alle, die Sealand zu entern versuchen.
Fotografien an den Wänden erinnern an die glorreiche Zeit der Besitznahme. Auf einer ist vor dem Hintergrund der Plattform ein eleganter Mann zu sehen, ganz Brite. Wäre er Schauspieler, die Rolle des Agenten 007 hätte ihm gut angestanden, noch dazu bei dieser Begleitung: eine Blondine mit viel Sex-Appeal. Es sind Roy und Joan Bates, Prince and Princess of Sealand, in den sechziger Jahren. Freunde hatten sie seinerzeit auf die Idee gebracht, auf der aufgegebenen Plattform – damals noch außerhalb der Hoheitsgewässer Großbritanniens – einen Staat zu gründen. Die alte Plattform sollte ihr Sprungbrett aus dem Käfig staatlicher Bevormundung werden.
Natürlich bekämpften die Engländer das Projekt. „Der Zoll schikanierte uns, öffnete all unsere Konserven, die wir auf die Insel schaffen wollten“, erzählt die heute 70-jährige Joan. In den Anfängen war es vor allem sie, die die Stellung auf Sealand hielt. Roy, der nach dem Krieg als Major aus der Armee ausgeschieden war, musste sich um andere Geschäfte auf dem Festland kümmern, beispielsweise um seine Fischfangflotte. „Einmal wollte die Küstenwache mich übers Ohr hauen. Sie erzählten mir, Roy habe die Insel verkauft. Nun seien sie gekommen, um mir beim Packen zu helfen.“ Aber Joan misstraute den Herren in Uniform und ließ sie nicht einmal in die Nähe der Plattform.
Dabei hatte die Küstenwache noch Glück. Wäre Roy auf der Plattform gewesen, er hätte scharfe Munition verschossen. Dass er sein Land zu verteidigen bereit war, stellte er mehr als einmal unter Beweis. Und glaubten die Briten, ihn mit Provokationen am Schlafittchen zu haben, täuschten sie sich erst recht. Eine Klage wegen unerlaubten Waffenbesitzes wurde von einem englischen Gericht niedergelegt, weil es sich nicht zuständig fühlte. Sealand befand sich damals eben noch – bevor Großbritannien sein Hoheitsgebiet 1987 auf zwölf Meilen erweiterte – in internationalem Gewässer; es war verlassen und aufgegeben worden und gehörte nach gutem altem Seerecht demjenigen, der es besetzte. Roy of Sealand, wie er sich seither nennt, wertete diese Entscheidung als die erste De-facto-Anerkennung seines Reiches.
Mitte der Siebziger – nach weiteren vergeblichen Bemühungen der britischen Justiz, das abtrünnige Inselchen unter Kontrolle zu bringen – verabschiedete Sealand seine eigene Verfassung. Eine eigene Währung, der Sealand-Dollar, folgte, eine Nationalhymne ebenso. Bis heute erklärt sich kein britisches Gericht zuständig für juristische Angelegenheiten auf Sealand. Es herrscht friedliche Koexistenz zwischen Königreich und Fürstentum.
Prince Roy und Princess Joan kehren nur noch selten auf die Insel zu-rück. In Westcliff-on-Sea an der Themse-Mündung haben sie sich aufs Altenteil zurückgezogen. Die Zeit der großen Abenteuer scheint endgültig vorbei. Tatsächlich liegt der letzte wirkliche Kampf um Sealand schon 24 Jahre zurück.
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Ronald Schenkel, Jahrgang 1964, ist Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung. Sein einzigartiges Visum von der Kanoneninsel weckt seither stets Neugier; zuletzt musste er einem nepalesischen Grenzbeamten von Sealand berichten.
Fotograf Jürg Waldmeier, geboren 1963, ist freier Fotograf und lebt in Zürich. Für mare hat er zuletzt in No. 16 die Schwimmweste porträtiert.
Vita | Ronald Schenkel, Jahrgang 1964, ist Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung. Sein einzigartiges Visum von der Kanoneninsel weckt seither stets Neugier; zuletzt musste er einem nepalesischen Grenzbeamten von Sealand berichten.
Fotograf Jürg Waldmeier, geboren 1963, ist freier Fotograf und lebt in Zürich. Für mare hat er zuletzt in No. 16 die Schwimmweste porträtiert. |
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Person | Von Ronald Schenkel und Jürg Waldmeier |
Vita | Ronald Schenkel, Jahrgang 1964, ist Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung. Sein einzigartiges Visum von der Kanoneninsel weckt seither stets Neugier; zuletzt musste er einem nepalesischen Grenzbeamten von Sealand berichten.
Fotograf Jürg Waldmeier, geboren 1963, ist freier Fotograf und lebt in Zürich. Für mare hat er zuletzt in No. 16 die Schwimmweste porträtiert. |
Person | Von Ronald Schenkel und Jürg Waldmeier |