Die Fahrschule der Kapitäne

In einem Alpenteich übt die Elite der Nautiker, wie ihre Riesenpötte in tückische Kanäle und enge Häfen passen

Wir kommen gut voran. An Backbord hat die „Brittany“ soeben Kap Horn passiert. Steve, Kapitän auf diesem Supertanker, gibt seinem Steuermann Leonard den neuen Kurs vor. Es geht jetzt in Richtung Biskaya. Bei der momentanen Geschwindigkeit von etwa vier Kilometern in der Stunde wird die Fahrt von der Südspitze Amerikas nach Europa ungefähr eine Dreiviertelstunde dauern.

Die Ozeane sind geschrumpft, auf ein ganz übersichtliches Format. Nirgendwo ist die „Brittany“ weiter als eine Stunde Fahrt vom Kap der Guten Hoffnung entfernt. Ihr Heimathafen, Port Revel, liegt westlich des Kaps. Wenn die „Brittany“ dort am Ende ihres Törns am Kai festmacht, braucht sie knapp zehn Meter Liegeplatz.

Der Supertanker ist – wie die Meere, die er befährt – eine verkleinerte Ausgabe der Wirklichkeit. Genau: die im Maßstab 1:25 nachgebaute Version eines 190000-Tonnen-Öltankers. Er gehört zur Flotte des „Port Revel Shiphandling Centers“ in den französischen Voralpen nördlich von Grenoble. Auf einem dreieinhalb Hektar großen Teich, den Trappistenmönche im 12. Jahrhundert angelegt hatten, um Fische zu züchten, ist eine Fahrschule für Kapitäne eingerichtet worden.

Steve und Leonard sind im richtigen Leben Lotsen an der kanadischen Westküste, in einem der schwierigsten Seereviere der Welt. Beide sind gestandene Nautiker, aber sie wissen, dass es in ihrem Handwerk Fertigkeiten gibt, die sie mit einem ausgewachsenen Schiff nie und nimmer üben könnten. Entsprechend enthusiastisch gehen beide den fünftägigen Kurs an: „Dieser Lehrgang ist das wichtigste Ereignis in meinem Berufsleben“, schwärmt Steve, als er die „Brittany“ sicher am Pier vertäut und wieder festen Boden unter den Füßen hat. Vor der Abreise, erzählt er, habe er auf die Frage seiner Frau, was Port Revel für ihn bedeute, geantwortet: „Das ist ungefähr genauso wichtig wie die Geburt unseres Sohnes.“

An die 5000 Kapitäne und Lotsen haben bisher das Port Revel Shiphandling Center besucht. Die Gruppen sind klein, nie weniger als vier, nie mehr als acht, höchstens hundert Personen pro Jahr. Fast alle werden von Reedereien, Hafengesellschaften, Lotsenvereinigungen oder Regierungen geschickt. Selten kommt mal einer ganz aus eigenem Antrieb, wie jener Amerikaner aus Honolulu, der plötzlich mit Taschen voller Bargeld am Ufer stand: Er wollte der beste Lotse von Hawaii werden.

Der Kurs kostet 12000 US-Dollar. Schon vom Preis her keine Ausbildungsstätte im üblichen Sinne. Eher so etwas wie das Harvard der Seefahrt. Entstanden ist das Trainingslager für fortgeschrittene Navigatoren in den wilden sechziger Jahren, als über Nacht der Ölboom ausbrach und die Reedereien einen Großtanker nach dem anderen in Auftrag gaben. Man benötigte schnellstens qualifiziertes Personal, aber wie und wo sollte es geschult werden?

In der Industrie wird zwar seit Jahrhunderten mit Modellen gearbeitet – sogar der Flug moderner Düsenjets lässt sich bekanntlich problemlos simulieren. Denn die Techniker haben inzwischen reichlich Erfahrung gesammelt, wie mit Gerät umzugehen ist, das auf Kommando sofort reagiert. Aber einen Supertanker, der so langsam, ja zeitverzögert reagiert, in die virtuelle Welt der Simulatoren zu versetzen, das machte Schwierigkeiten.

Die Firma Esso Tankers, die einem Vorläufer des jetzigen Ölmultis ExxonMobil gehörte, gründete 1967 gemeinsam mit dem französischen Ingenieurbüro Sogreah die erste Fahrschule für Tankerkapitäne. Sogreah, die Société Grenobloise d’Etudes et d’Applications Hydrauliques, war seit dem Ersten Weltkrieg mit Modellbau beschäftigt und hatte nach der Nationalisierung des Suezkanals durch Ägypten im Jahr 1956 ein Trainingsmodell der Wasserstraße für Schulungen entwickelt. Gemeinsam suchten sie nach einem kleinen Teich mit wenig Windeinwirkung und fanden ihn im Alpenvorland, nördlich von Grenoble. Als Esso Tankers 1970 seinen Kapitänsbedarf gedeckt hatte, übernahm Sogreah die Schule.

Port Revel liegt versteckt am Rande eines Naturparks. Hirsche machen verschreckt den Weg frei, als die Kursteilnehmer frühmorgens auf die Straße zum Institutsgebäude – einem komfortabel ein- gerichteten ehemaligen Jagdschlösschen – einbiegen. Chefausbilder ist Philippe Delasalle, 65 Jahre alt, silbergrauer Haarkranz, dicke Hornbrille. Ein groß gewachsener Mann mit kugelrundem Bauch, den er in Anspielung an den Rumpf moderner Großschiffe „meinen Wulstbug“ nennt. Früher war Philippe Lotse in Algier, im Persischen Golf und in Kamerun. Auch die anderen drei Ausbilder, allesamt pensioniert, waren nicht nur Kapitäne, sondern auch Lotsen, und das aus gutem Grund: Ein Kapitän wird zwar einem anderen Kapitän zuhören, aber ein Lotse wird, wenn es um Schiffsmanöver geht, niemals Ratschläge eines Kapitäns befolgen.

Chefausbilder Delasalle referiert über das Gesetz des Meeres. Es gibt Kräfte, die der Mensch unter Kontrolle hat: Maschinen, Ruder, Schlepper. Und dann die mächtigen Naturgewalten, denen er sich unterordnen muss, die er nicht bändigen kann: Wind, Wellen, Strömungen. Den Umgang mit dem schwimmenden Gerät nennt Delasalle „Shiphandling“ – ein Handwerk, das der Mensch schon seit Jahrtausenden beherrscht. Nur dass heute eben mehr Fracht befördert wird und die Schiffe viel größer geworden sind. „Aber die Häfen leider nicht, die sind immer noch so eng“, schließt der Fahrlehrer seine Einführung. „Noch Fragen?“


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mare No. 19

No. 19April / Mai 2000

Von Rolf Kunkel und Charly Kurz

Rolf Kunkel, Jahrgang 1940, fuhr früher selbst zur See. Für mare hat der freie Journalist, 1979 Gewinnerdes Theodor-Wolff- und des Kisch-Preises, zuletzt über die Kanalschwimmer geschrieben (in Heft 12). Im letzten Jahr hat er für eine U-Boot-Reportage im F.A.Z-Magazin den Medienpreis der Bundeswehr erhalten.

Charly Kurz, 1969 geboren, studierte Fotografie und lebt in Köln. Für mare fotografierte er zuletzt die Schleusenwärterin des Panamakanals (in Heft 15)

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Vita Rolf Kunkel, Jahrgang 1940, fuhr früher selbst zur See. Für mare hat der freie Journalist, 1979 Gewinnerdes Theodor-Wolff- und des Kisch-Preises, zuletzt über die Kanalschwimmer geschrieben (in Heft 12). Im letzten Jahr hat er für eine U-Boot-Reportage im F.A.Z-Magazin den Medienpreis der Bundeswehr erhalten.

Charly Kurz, 1969 geboren, studierte Fotografie und lebt in Köln. Für mare fotografierte er zuletzt die Schleusenwärterin des Panamakanals (in Heft 15)
Person Von Rolf Kunkel und Charly Kurz
Vita Rolf Kunkel, Jahrgang 1940, fuhr früher selbst zur See. Für mare hat der freie Journalist, 1979 Gewinnerdes Theodor-Wolff- und des Kisch-Preises, zuletzt über die Kanalschwimmer geschrieben (in Heft 12). Im letzten Jahr hat er für eine U-Boot-Reportage im F.A.Z-Magazin den Medienpreis der Bundeswehr erhalten.

Charly Kurz, 1969 geboren, studierte Fotografie und lebt in Köln. Für mare fotografierte er zuletzt die Schleusenwärterin des Panamakanals (in Heft 15)
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