Die Fabelhaften

Narwale des Arktischen Ozeans sind seit Menschengedenken von Geheimnissen und Legen­den umwittert. Dabei sind sie Meeressäuger wie andere Walarten auch. Nur eben vergleichsweise scheu und selten – und mit einer einzigartigen Zahnanomalie

Tief hängen die Wolken über Baffin Island hoch im Norden Kanadas. Fast berühren sie die Zelte des Forscher­lagers zwischen den Klippen. Von See her nähert sich ein Schlauchboot, im Schlepp ein lebendes mythisches Tier, das sich weiter draußen in einem extra dafür ausgelegten Netz verheddert hatte und jetzt in einer Art Schreckstarre neben dem Gummiwulst vertäut ist: ein Narwal mit fast zwei Meter langem Zahn. Dem rätselhaften lanzengeraden Auswuchs an der Oberlippe wollen der aus Boston stammende Zahnarzt Martin Nweeia sowie Wissenschaftler der kanadischen Fischereibehörde heute ein Stück seines Geheimnisses entreißen.

Im hüfthohen Wasser befestigt das Forscherteam am Kopf des Meeressäugers Elektroden für die Messung der Gehirn­aktivität. Dann stülpen die Männer ein langes, nach außen dicht abschließendes Rohr über den Zahn und füllen über einen Stutzen erst Süß- und dann immer salzigeres Wasser in den Zwischenraum. Als der Salzgehalt bei etwa 40 Promille liegt, fängt der bis dahin ruhig liegende Narwal plötzlich an, seinen Kopf hin und her zu bewegen. „Ich war geschockt, konnte es kaum glauben“, sagt Nweeia, „genau nach diesem Beweis hatte ich gesucht: Der Zahn fungiert als Messinstrument.“

Martin Nweeia forscht einen ganz speziellen ozeanischen Bewohner aus, der mehr wie ein Fabelwesen erscheint und schon jahrtausendelang Rätsel aufgibt. Vor allem sein spießartiger, in der Tierwelt einzigartiger Zahn von mehreren Metern Länge hat immer wieder die Fantasie der Menschen angeregt.

Der Zahnarzt und Hochschuldozent­ ­Nweeia wurde auf den Meeressäuger aufmerksam, als er vor gut 15 Jahren eine Vorlesung über Gebissentwicklung für die Harvard University vorbereitete. „Sein Zahn hatte überhaupt keinen Sinn für mich, und gerade das ließ mich nicht mehr los“, sagt er. „Und je mehr ich erfahre, desto weniger Sinn hat er für mich.“

Mit seinem Forschungsprojekt Narwhal Tusk Discoveries will Nweeia dem Irrglauben über den Säuger aus dem Eismeer Fakten entgegensetzen. Schon die an zweiter Stelle des lateinischen Namens Monodon monoceros stehende Artbezeichnung des Narwals ist falsch: Monoceros bedeutet so viel wie „ein Horn“. Doch der Narwal hat kein Horn und nicht nur einen, sondern häufig zwei Zähne im Oberkiefer eines ansonsten völlig verkümmerten Gebisses, worauf sich der Gattungsname Monodon bezieht. Vor allem der linke dieser Zähne wächst bei männlichen Tieren meterlang vor, bei weiblichen dagegen seltener. Manchmal reckt sich auch der rechte Zahn fast ebenso weit heraus, sodass beide zusammen wie eine Doppellanze wirken. 

Mit knapp drei Meter Länge ist dieses im Tierreich einmalige Gebilde, das wie eine gedrillte Turnierlanze aussieht, nur unwesentlich kürzer als der Körper des Wals. Viele Jahrhunderte lang kannte ­niemand, bis auf die Inuit, den eigenartigen Meeresbewohner, wohl aber dessen Zahn, der hin und wieder – als Überbleibsel verirrter und dort verendeter Tiere – an Nordseestränden gefunden und in Europa und Kleinasien für ein Horn gehalten wurde. Das Tier, von dem es stammen sollte, wurde einfach dazufabuliert – das Einhorn. Der Glaube an die Existenz des mystischen Pferdchens hielt sich selbst dann noch, als der dänische Anatom und Kopenhagener Hofarzt Thomas Bartholin 1645 nachwies, dass es sich bei den in Apotheken ausgestellten Hörnern zweifelsfrei um Zähne eines Wals handelte (Seite 74). 

Zu jener Zeit erreichte eine besondere Fracht aus Grönland die dänische Hauptstadt: 172 Kilogramm Narwalzähne, insgesamt wohl 25 Stück, die vermutlich zum Teil in dem Thron des berühmten  Kopenhagener Rosenborgpalasts verarbeitet wurden. Einige Jahrzehnte zuvor soll die englische Königin Elizabeth I. Händlern für nur einen Zahn 10 000 Pfund Sterling gegeben haben – einen Betrag, der zum Bau eines Palasts ausgereicht hätte. Das sagenumwobene Objekt vom Kopf des Fabelwesens galt bei Hof als ultimatives Statussymbol. 

Bis vor gut 15 Jahren blühten jenseits der Inuit­gemeinschaften die Spekula­tionen über den Narwalzahn und seinen möglichen Zweck: den Meeresboden nach Nahrung durchgraben; Beute aufspießen; dünnes Eis durchbrechen; Feinde vertreiben. Manche Wissenschaftler hielten den Zahn für eine Art Kühllanze oder Schallantenne, andere für ein sexuelles Dominanzattribut ähnlich einem Geweih. 

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mare No. 159

mare No. 159August / September 2023

Von Christian Jungblut und Paul Nicklen

Der Hamburger Autor Christian Jungblut, Jahrgang 1943, unternahm mehrere Reportagereisen zu den Inuit im Nordwesten Grönlands, wo der Narwal ­verehrt wird und dessen Haut, Mattak genannt, als Deli­katesse gilt. Einen aufgenötigten Probebissen empfand Jungblut allerdings als sandpapierartig und eher fad.

Um Narwale zu finden, musste der preisgekrönte kanadische Fotograf Paul Nicklen, geboren 1968, mit einem ­Ultraleichtflugzeug über den offenen Ozean fliegen.

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Vita Der Hamburger Autor Christian Jungblut, Jahrgang 1943, unternahm mehrere Reportagereisen zu den Inuit im Nordwesten Grönlands, wo der Narwal ­verehrt wird und dessen Haut, Mattak genannt, als Deli­katesse gilt. Einen aufgenötigten Probebissen empfand Jungblut allerdings als sandpapierartig und eher fad.

Um Narwale zu finden, musste der preisgekrönte kanadische Fotograf Paul Nicklen, geboren 1968, mit einem ­Ultraleichtflugzeug über den offenen Ozean fliegen.
Person Von Christian Jungblut und Paul Nicklen
Vita Der Hamburger Autor Christian Jungblut, Jahrgang 1943, unternahm mehrere Reportagereisen zu den Inuit im Nordwesten Grönlands, wo der Narwal ­verehrt wird und dessen Haut, Mattak genannt, als Deli­katesse gilt. Einen aufgenötigten Probebissen empfand Jungblut allerdings als sandpapierartig und eher fad.

Um Narwale zu finden, musste der preisgekrönte kanadische Fotograf Paul Nicklen, geboren 1968, mit einem ­Ultraleichtflugzeug über den offenen Ozean fliegen.
Person Von Christian Jungblut und Paul Nicklen