Die Erweiterung des Horizonts

Das Nachdenken über das Meer als Überlebensfrage. Es weckt uns aus der Rücksichtslosigkeit, mit der wir den Lebensraum behandeln, aus dem wir kommen und der unsere Zivilisation erst ermöglichte

Was hat das Meer mit der Philosophie zu tun? Thales, der als erster Philosoph des Abendlands gilt und um 600 v. Chr. in Milet an der Küste des Mittelmeers und an einer Flussmündung lebte, erklärte das Wasser zum Grundprinzip der Welt: Alles entstehe aus Wasser und löse sich auch wieder in Wasser auf. Platon erzählt von ihm die Anekdote, er sei bei der Beobachtung der Sterne in einen Brunnen gefallen und eine Magd habe ihn deshalb ausgelacht. Aber man sollte Thales nicht für einen weltfremden Spinner halten, denn ihm werden eine Reihe von wissenschaftlichen Entdeckungen zugeschrieben. Sogar eine Sonnenfinsternis soll er schon vorausgesagt haben.

Mit seinem philosophischen Grundprinzip des Wassers vollbrachte er gleich zwei Großtaten: Er führte die vielgestaltige Erfahrungswelt auf ein einziges Prinzip zurück. Dieses Bestreben des menschlichen Geistes ist bis in die moderne Physik lebendig geblieben. Und er sah alles Leben im Wasser entstehen, das für das antike Denken viel mehr als nur H2O war. Diese Herkunft des Lebens hat die Biologie später als vollkommen richtig bestätigt. Mag der Gott Okeanos mit seinen vielen Kindern schon immer als ungeheuer mächtig und produktiv gepriesen worden sein – den Sprung heraus aus der mythischen Götterwelt hat Thales riskiert.

Sein Schüler Anaximander äußerte ebenfalls Mutmaßungen über die Entstehung des Menschen im Wasser, und so begab man sich schon sehr früh auf einen Weg, der schließlich zur Evolutionstheorie führte. Ein anderer berühmter Denker von der Küste Kleinasiens, Heraklit aus Ephesos, lehrte durch die Bewegungen und Veränderungen des Wassers den gesamten Weltlauf zu verstehen, in welchem alle Dinge in steter Umwandlung begriffen sind und nichts bleibt, wie es ist: „Alles fließt“, panta rhei. Nietzsche wünschte sich deshalb für seine Zeitgenossen die Lehren Heraklits als Pflichtlektüre, schließlich änderte sich die menschliche Welt im 19. Jahrhundert viel grundlegender als zu Zeiten Heraklits. Aus demselben Grund hatten auch viele andere wie Hegel und Lassalle ihre Bewunderung für den eigenwilligen Mann aus Ephesos bekundet, der seine Mitbürger als Spießer verachtete und lieber mit den Kindern Würfeln spielte, als sich am öffentlichen Leben zu beteiligen.

Der Quell für die gedankliche Kreativität jener ersten Philosophen war nicht allein ihr Genius; vielmehr hat das Meer dabei entscheidend mitgewirkt. Als wichtigster Verkehrsweg hatte es in den Küstenstädten der Griechen verschiedene Kulturen miteinander in Berührung gebracht. Man tauschte nicht nur Waren, sondern auch Ideen aus, bekam viele Anregungen von außen. Die ständige Erfahrung der gewaltigen Macht und Wandlungsfähigkeit des Meeres und der Wellen regte zudem die Gedanken an.

So wie sich der Mensch zur Natur verhält, so ist er. Er ist ein Landbewohner, ein zweibeiniges Lebewesen, und das Meer begegnet ihm zunächst als ein fremder, ja gefährlicher Raum, in dem er nicht atmen und existieren kann. Zu diesem Fremden aber muss er sich irgendwie verhalten, denn es bedroht und fasziniert ihn auch. Zunächst erschuf seine Fantasie Mythen von Göttern und Dämonen, mit denen er das Unbekannte und Gefahrvolle in anschauliche Bilder bannen konnte; hier zeigt sich der Mensch als ein interpretierendes Wesen – der Gott Okeanos symbolisierte die Macht des Meeres. Sodann aktivierte der Mensch seine erfinderischen, technischen Fähigkeiten. Er baute Flöße, Boote, Schiffe, mit denen er sich auf das flüssige Element hinauswagen konnte, sowie Instrumente zum Fischfang.

Hier ist der Mensch homo faber, ein herstellendes Wesen. Als solcher konnte er schon viel genauere Kenntnisse vom Meer erlangen, sodass das Fremde ihm vertrauter wurde. Schließlich dachte er über das Meer im Zusammenhang mit all seinen Erfahrungen nach und entdeckte: Die gefährliche Materie, das Wasser, bringt alles Leben hervor, ja, er hat es sogar in sich selbst, er ist ein Kind des Meeres – damit war der Mensch zu einem philosophierenden und wissenschaftlichen Wesen geworden. Das philosophische Denken entstand also am Meer und entdeckte in ihm sogleich auch den Ursprung des Lebens.

Mythen, Religionen und Dichtungen werden durch Weitergabe, durch das Weitererzählen erhalten. Die Philosophie hingegen lebt von Behauptung und Widerspruch, von Prüfung des Tradierten und neuen Gedanken. Daher war die Philosophie in Europa auch zunächst weder begrifflich noch sachlich von der Wissenschaft getrennt. Es war Platon, der den alten Naturphilosophen Kleinasiens am heftigsten widersprach. Er ersetzte die Erkenntnis der Natur durch die Selbsterkenntnis des denkenden Menschen und erklärte zum obersten Prinzip die Idee des Guten. Diese Idee sollte sowohl das Erkennen wie das Handeln leiten, da sie Licht in unseren Verstand bringe.


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mare No. 125

No. 125Dezember 2017 / Januar 2018

Von Gunter Scholtz und Christian Schellewald

Gunter Scholtz, geboren 1941, emeritierter Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, veröffentlichte 2016 im mareverlag sein Buch Philosophie des Meeres. Danach war er sich sicherer denn je, dass Philosophie und Meer grenzenlos sind und man nicht nur im Wasser, sondern auch in Gedanken versinken kann.

Christian Schellewald, geboren 1962, ist Konzeptkünstler, Illustrator und früherer Art Director des Trickfilmstudios DreamWorks. Schellewald lebt in Los Angeles. Zuletzt getaltete er in mare No. 107 einen Essay von Durs Grünbein zum Mittelmeer.

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Vita Gunter Scholtz, geboren 1941, emeritierter Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, veröffentlichte 2016 im mareverlag sein Buch Philosophie des Meeres. Danach war er sich sicherer denn je, dass Philosophie und Meer grenzenlos sind und man nicht nur im Wasser, sondern auch in Gedanken versinken kann.

Christian Schellewald, geboren 1962, ist Konzeptkünstler, Illustrator und früherer Art Director des Trickfilmstudios DreamWorks. Schellewald lebt in Los Angeles. Zuletzt getaltete er in mare No. 107 einen Essay von Durs Grünbein zum Mittelmeer.
Person Von Gunter Scholtz und Christian Schellewald
Vita Gunter Scholtz, geboren 1941, emeritierter Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, veröffentlichte 2016 im mareverlag sein Buch Philosophie des Meeres. Danach war er sich sicherer denn je, dass Philosophie und Meer grenzenlos sind und man nicht nur im Wasser, sondern auch in Gedanken versinken kann.

Christian Schellewald, geboren 1962, ist Konzeptkünstler, Illustrator und früherer Art Director des Trickfilmstudios DreamWorks. Schellewald lebt in Los Angeles. Zuletzt getaltete er in mare No. 107 einen Essay von Durs Grünbein zum Mittelmeer.
Person Von Gunter Scholtz und Christian Schellewald