Die Elenden von Venedig

1977 fuhr Fotograf Raymond Depardon zum ersten Mal zu Venedigs psychiatrischen Anstalten auf San Servolo. Fortan ­dokumentierte er Tristesse und Hoffnungslosigkeit der Insassen. Seine Bilder rüttelten Öffentlichkeit und Politik auf, das Leid zu beenden

Die Adelspaläste an der Va-poretto-Haltestelle San Zaccaria waren noch in gespenstischen Nebel gehüllt und die Gondeln vertäut, als das Boot der Linie 20 am frühen Morgen ablegte, erinnert sich Raymond Depardon. Endstation war die Insel San Servolo in Venedigs Lagune, in Sichtweite des Lido. Es waren nur wenige Passagiere an Bord, darunter der französische Fotograf und Filmemacher, Mitglied der legendären Fotoagentur Magnum. An einem Wintertag 1977 war es zum ersten Mal, dass er zur kleinen Insel übersetzte, auf der einst eine Benediktinerabtei, dann ein Nonnenkloster eingerichtet war. Nun dienten die alten Gemäuer nicht mehr religiöser Einkehr, sondern waren in ein abgeschottetes manicomio umgewandelt worden, wie Italiener abwertend psychiatrische Asyle nennen. Manicomio lässt sich spöttisch mit Irrenhaus oder Klapsmühle übersetzen.

Was Raymond Depardon mit seiner diskreten Leica und hochempfindlichen Kodak-Tri-X-Schwarz-Weiß-Filmen einfing, waren Szenen von Leid, Hoffnungslosigkeit und Tristesse: halluzinierende Frauen und Männer, Patienten in Zwangsjacken, abwesende und verzweifelte Blicke, stumpfsinniges Auf- und Abmarschieren, Zimmer wie Gefängniszellen, Essräume mit abblätterndem Putz, altmodische Gemeinschaftsduschen, Hocken vor dem Fernseher als einzige Unterhaltung. In dieser abgründigen, verborgenen Welt waren das Anschnallen von Patienten an den Betten, Elektroschocks, Eisbäder und medikamentöse Keulen keine Seltenheit.

Bis 1981 dokumentierte Depardon, zwischen seinen vielen Einsätzen in der ganzen Welt, den unwürdigen und unmenschlichen Alltag in Psychiatrien in Triest, Neapel, Arezzo, Turin und vor allem in Venedig. Über San Clemente, der weiteren Insel in Venedig, die ein Psychiatrieheim beherbergte, drehte er mit der Fotografin Sophie Ristelhueber einen viel beachteten Dokumentarfilm. „So frei und fortschrittlich die stolze Dogenstadt sich gab, so radikal war sie schon immer gewesen, wenn es galt, unliebsame Bürger wegzusperren“, erklärt Raymond Depardon und erzählt, dass früher auch Häftlinge, Bettler, Waisen, Alkoholiker, Pest-, Cholera- und Tuberkulosekranke auf die Inseln der Lagune verbannt oder dort in Quarantäne gesteckt wurden. Die Venezianer nannten die Inseln isole dei dolori, Inseln der Schmerzen.

„Es waren regelrechte Isolierstationen, wo es kein Entkommen gab, da das Meer eine natürliche Barriere bildet“, sagt Depardon. Er präzisiert, dass beide Anstalten stets hoffnungslos überbelegt waren. Allein auf San Servolo zählte man zwischen 1921 und 1971 exakt 13 752 Patienten, alle dokumentiert durch Fotoporträts, die in den Archiven in Venedig aufbewahrt werden. Zimmer mit mindestens sechs Betten waren die Regel. Von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg waren beide Inseln bekannt für die Unterbringung von an Pellagra Erkrankten. Die Raue-Haut-Krankheit hatte ihren Namen vom schuppigen, pigmentierten Ausschlag, der vor allem die Bauern von Veneto und Piemont befiel, da sie sich einseitig von Mais und Hirse ernährten. Dadurch entstand ein Mangel an Vitamin B3, der Durchfall, Dermatitis und Demenz verursachte. Da damals dieses sogenannte „Arme-Leute-Leiden“ medizinisch nur schwer behandelbar war, wurden die extremen Fälle, die unter Depressionen und Delirium litten, kurzerhand in Nervenanstalten zwangseingewiesen. Die Beschäftigungstherapien auf den „Inseln der Wahnsinnigen“ waren nicht weniger rudimentär: Sie dienten der Ermüdung der Kranken und beschränkten sich auf Kartoffelschälen in der Anstaltsküche sowie Handlangerarbeiten in der Schusterei und in einem Druckatelier.

Raymond Depardon, heute 79 Jahre alt und den Kopf noch immer voller Projekte, wohnt in Clamart, südwestlich von Paris. Das Haus in einer stillen Seitenstraße strahlt mit seinen rötlichen Natursteinen, seinen blauen Fensterläden und dem schattigen Garten eine provenzalische Atmosphäre aus. Hier wohnt und arbeitet Depardon mit seiner Frau Claudine Nougaret, einer Tontechnikerin und Produzentin, mit der er viele Filme gedreht hat, darunter die beiden weiteren seiner Psychiatrietrilogie: „12 jours“, ein Film über von französischen Gerichten angeordnete Zwangseinweisungen, sowie „Urgences“, der den aufreibenden Alltag in der psychiatrischen Notaufnahme des Pariser Krankenhauses Hôtel-Dieu einfängt.

Depardon hat nach wie vor den wachen Fotografenblick, stets auf dem Sprung, ein gutes Bild einzufangen. Sein charmantes Haus ist gleichzeitig seine Archivstätte, wo ein Schatz an Negativen, Abzügen, Filmrollen, Video- und Tonbändern lagert. Es ist ein unerschöpfliches Lebenswerk, wurde Depardon doch schon mit 18 Jahren von der damaligen Agentur Dalmas für eine Reportage in die Sahara geschickt. Ein Assistent hilft ordnen, sichten, digitalisieren, Ausstellungen und Buchpublikationen vorzubereiten. Und wenn Depardon aus seinem aufregenden, kinoreifen Berufsleben erzählt, wie er Richard Nixon und Brigitte Bardot fotografierte oder wie Präsident Valéry Giscard d’Estaing jahrzehntelang einen ihm missliebigen Dokumentarfilm über seinen Wahlkampf zensurierte, funkelt nie nachgelassene Begeisterung für das visuelle Metier durch. Wobei Depardon die Entbehrungen nicht verleugnet. „Die Einsamkeit ist im Leben eines Fotografen immer gegenwärtig. Man muss die Einsamkeit lieben, um Fotograf zu sein.“


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mare No. 147

mare No. 147August / September 2021

Von Rob Kieffer und Raymond Depardon

Rob Kieffer, Jahrgang 1957, lebt als Journalist und Autor in Luxemburg. Als er im Coronasommer Depardon in seinem Wohnort bei Paris besuchte, nahm er vom Bahnhof aus ein Taxi. Der gefährliche Situationen gewohnte Depardon hatte ihm geraten, wegen der Infektionsgefahr die überfüllte Metro zu meiden.

Raymond Depardon, Jahrgang 1942, ist Mitglied der Agentur Magnum. Er hat 40 Bücher publiziert und 49 Filme gedreht. Für seine Reportage über den Tschad erhielt er den Pulitzerpreis.

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Vita Rob Kieffer, Jahrgang 1957, lebt als Journalist und Autor in Luxemburg. Als er im Coronasommer Depardon in seinem Wohnort bei Paris besuchte, nahm er vom Bahnhof aus ein Taxi. Der gefährliche Situationen gewohnte Depardon hatte ihm geraten, wegen der Infektionsgefahr die überfüllte Metro zu meiden.

Raymond Depardon, Jahrgang 1942, ist Mitglied der Agentur Magnum. Er hat 40 Bücher publiziert und 49 Filme gedreht. Für seine Reportage über den Tschad erhielt er den Pulitzerpreis.
Person Von Rob Kieffer und Raymond Depardon
Vita Rob Kieffer, Jahrgang 1957, lebt als Journalist und Autor in Luxemburg. Als er im Coronasommer Depardon in seinem Wohnort bei Paris besuchte, nahm er vom Bahnhof aus ein Taxi. Der gefährliche Situationen gewohnte Depardon hatte ihm geraten, wegen der Infektionsgefahr die überfüllte Metro zu meiden.

Raymond Depardon, Jahrgang 1942, ist Mitglied der Agentur Magnum. Er hat 40 Bücher publiziert und 49 Filme gedreht. Für seine Reportage über den Tschad erhielt er den Pulitzerpreis.
Person Von Rob Kieffer und Raymond Depardon