Die Eisenheiligen von New York

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts errichtete New York Brücken, die zu Ikonen der Baukunst wurden. Zwei Fotografen haben sie, im Abstand von 100 Jahren, dokumentiert

Wo anders als in New York City könnte man die berühmtesten Brücken finden? Jede noch so stolze Metropole der Welt wird neidlos anerkennen, dass es diese Stadt der Städte ist, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in das Goldene Zeitalter der Brückenbaukunst trat und in den folgenden fünf Dekaden die wahren Ikonen dieses Genres erschuf. Auch wenn heute die großen Brückenprojekte in anderen Teilen der Welt, allen voran die aufstrebenden Nationen des Fernen Ostens, zu finden sind: Es sind die New Yorker Kolosse, vor allem jene Big Four, die Manhattan mit Long Island verbinden, die zum Sinnbild des Verbindenden geworden sind, ewiger Gegenstand bildnerischer, literarischer, musikalischer und journalistischer Beschäftigung.

Die Überhöhung dieser Bauwerke erklärt sich zuerst mit ihrer Unabdingbarkeit. Die Geografie der Stadt, die Relation ihrer Teile, die allesamt Inseln sind, Manhattan, Long Island und Staten Island, voneinander separiert durch zwei große Wasserwege, den Hudson River, der Manhattan nach Westen hin vom amerikanischen Festland und dem Nachbarn New Jersey trennt, und den East River, der genau genommen kein Fluss ist, sondern eine Meerenge: Sie zwingt New York geradezu, eine Stadt der großen Brücken zu sein. In den fünf Jahrzehnten des explosionsartigen Bevölkerungswachstums nach 1880, in jenen Hauptjahrzehnten der Immigration wucherten die Stadtteile, und ihre Verbindungen waren die gewaltigen Brücken, die mit jeder neuen Eröffnung weitere Ströme von Menschen und Material in Gang setzten und damit wie Arterien aus Stahl dem Körper der Stadt immer neue Nahrung für sein Wachstum zuführten.

Auch wenn die Geschichte New Yorks erst seit der großen Einwanderung wahrgenommen zu werden scheint: Seine erste Brücke war zwei Jahrhunderte älter – eine einfache Holzkonstruktion über den Spuyten Duyvil Creek im äußersten Norden Manhattans, dort wo sich heute der Broadway im gesichtslosen Einerlei der Vorstädte verliert. Die Brücke über den Kanal, der den Hudson mit dem Harlem River verbindet, war für Frederick Philipse, der sie 1693 erbaute, eine Geldmaschine. Die Stadtverwaltung hatte für ihren Bau keine Mittel, und so gestattete sie Philipse, für die Benutzung seiner Brücke eine Maut zu erheben. Zwar nicht die Brücke, aber das Geschäftsmodell hat bis heute Bestand.

Deutlich später, 1848, wurde die älteste existierende New Yorker Brücke errichtet, der elegante Stahlbogen der High Bridge, die an der 174. Straße den Sprung von Manhattan nach Bronx über den Harlem River macht. Seit vier Jahrzehnten ist sie wegen Baufälligkeit für den Verkehr gesperrt, aber eine Bürgerinitiative hofft, sie 2013 zu reaktivieren. Sie freut sich über Spenden, denn trotz einer 50-Millionen-Dollar-Zusage des Bürgermeisters Bloomberg fehlen noch immer zwölf Millionen.

Die Großen Vier über den East River, sie sind jedem New Yorker Kind vertraut. Da ist im Süden, fast an der Spitze Manhattans, die Brooklyn Bridge. Sie ist die Königin: zwischen 1869 und 1883 erbaut, die erste und seinerzeit längste Hängebrücke der Welt zwischen dem Wall-Street-Viertel und Brooklyn. Mit den neogotischen Spitzbogen ihrer Türme wirkt sie beinahe sakral auf den, der zum ersten Mal über ihr eisernes Gerippe nach Manhattan kommt, und betrachtet man einen Sonnenuntergang durch die Arkaden, denkt man unwillkürlich an das Licht der Glasfenster eines mittelalterlichen Domes.

Die nächste, gerade zwei Kilometer weiter nördlich: die Manhattan Bridge, zwischen Lower Manhattan und Brooklyn, 1909 fertiggestellt und mit ihren Portalen, die ein bisschen unglücklich Berninis Kolonnaden am römischen Petersdom zitieren, die eitle Schöne unter den Big Four; keine ist häufiger Filmkulisse und Drehort von Hollywoodfilmen als sie. Von hier ist es wiederum kaum eine Viertelstunde zu Fuß bis zur dritten, der Williamsburg Bridge, 1903 eröffnet und damals wiederum die längste Hängebrücke der Welt. Sie verbindet das Herz der Bowery auf Manhattan mit Williamsburg. Die Bowery: Hier, wo Pieter Stuyvesant, der Gründer Neu-Amsterdams, das die Engländer später New York nannten, 1667 ein Gehöft zum Alterssitz nahm, wo 1850 Bandenkriege in finsteren Häuserschluchten New York zum Gomorrha machten, hier steht die Rampe, auf die in den 1950ern der große Jazzsaxofonist Sonny Rollins zum Üben ging, um seine schwangere Nachbarin zu schonen und sich vom Ausblick Flügel verleihen zu lassen. Und auf der anderen, der Williamsburger Seite brachten furchtsame Juden eine Inschrift an mit der Klage „Leaving Brooklyn: Oy vay!“ – ja, die Williamsburg Bridge ist die newyorkerischste der New Yorker Brücken.


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mare No. 85

No. 85April / Mai 2011

Von Karl Spurzem, Eugène de Salignac und Abe Frajndlich

Karl Spurzem, Jahrgang 1959, ist stellvertretender mare-Chefredakteur. Ihn zieht es in New York unweigerlich auf die Brücken am East River. Sein Lieblingsplatz ist der kleine Empire-Fulton-Ferry-Park in Brooklyn. Ein Picknick bei Sonnenuntergang vor Manhattans Kulisse ist (nicht nur) für ihn eines der schönsten Vergnügen, die New York zu bieten hat.

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Vita Karl Spurzem, Jahrgang 1959, ist stellvertretender mare-Chefredakteur. Ihn zieht es in New York unweigerlich auf die Brücken am East River. Sein Lieblingsplatz ist der kleine Empire-Fulton-Ferry-Park in Brooklyn. Ein Picknick bei Sonnenuntergang vor Manhattans Kulisse ist (nicht nur) für ihn eines der schönsten Vergnügen, die New York zu bieten hat.
Person Von Karl Spurzem, Eugène de Salignac und Abe Frajndlich
Vita Karl Spurzem, Jahrgang 1959, ist stellvertretender mare-Chefredakteur. Ihn zieht es in New York unweigerlich auf die Brücken am East River. Sein Lieblingsplatz ist der kleine Empire-Fulton-Ferry-Park in Brooklyn. Ein Picknick bei Sonnenuntergang vor Manhattans Kulisse ist (nicht nur) für ihn eines der schönsten Vergnügen, die New York zu bieten hat.
Person Von Karl Spurzem, Eugène de Salignac und Abe Frajndlich