Die Eisenfresser von Alang

Vier von fünf ausgedienten Ozeanriesen der Welt werden an einem einsamen Strand Nordindiens verschrottet

Vivek Pandey ist nervös. Das schmale Stück Strand, auf das er den alten Texaco-Tanker mit voller Fahrt hinaufsteuern muss, ist knapp viermal so breit wie sein Schiff, und in dieser pechschwarzen Nacht sieht man die Hand vor Augen kaum. „Wenn du nicht aufpasst, dann fährst du dir in den eigenen Hintern und merkst es nicht einmal“, flucht er.

Obwohl der Lotse als erfahrener Kapitän schon so manchen Ozeandampfer sicher über die Weltmeere gesteuert hat, macht ihn der geplante Schiffbruch unruhig. Je weiter er mit seinem Schiff auf den Strand fahren kann, desto besser für Viveks Ansehen bei den Eisenfressern. Gezeitenströmung und herumliegende Wrackteile sind Hindernisse auf seinem Kurs zum glatten Crash. Denn Lotse Vivek Pandeys Job ist es nicht, Schiffe sicher durch schwieriges Gewässer zu führen. Sein Job ist es, Schiffe stranden zu lassen. Auf etwa 80 Schiffbrüche hat es der Lotse bislang gebracht.

Vor etwa zehn Jahren kamen die Menschen im nordindischen Staat Gujarat auf die Idee, dass eine der größten Hubtiden der Welt – das Wasser fällt bei Ebbe um mehr als acht Meter – doch zu etwas nütze sein könnte. So begann man in Alang, einem öden Küstenstreifen mit einem breiten Sandstrand und nicht mehr als einem Leuchtturm, mit dem Abwracken von Schiffen.

Mittlerweile werden in Alang zwei Drittel der weltweit schrottreifen Schiffstonnage in Stücke geschnitten. Die etwa 60 Abwrackwerften, auf denen gleichzeitig ungefähr 80 Schiffe verschrottet werden, bilden den größten Schiffsfriedhof der Welt.

Bereits am Nachmittag hatte ein Schlepper Vivek Pandey vom Hafen der Provinzhauptstadt Bhavnagar in den Golf von Khambhat gebracht, wo die „Star Mist“ vor Anker lag. Die „Star Mist“ ist ein Turbinentanker, der, 1944 in Panama vom Stapel gelaufen, noch Konvoi im Zweiten Weltkrieg gefahren war. Mit Vivek kamen der Werftbesitzer Ajay Kuar Bhatia, dessen Familie und zahlreiche Freunde an Bord. Man wollte den neuen Besitz des Abwrackers in Augenschein nehmen, ehe er von den Schneidbrennern seiner Arbeiter verstümmelt war. Stolz durchstreifte Bhatia Brückenräume, Messen und Kammern, strich mit den Händen zärtlich über Messingarmaturen, drehte neugierig an den Knöpfen eines Fernsehers, überprüfte Inhalt von Vorratskammer und Kühlschränken und unterhielt sich jovial mit der pakistanischen Crew, die den Tanker auf der letzten Fahrt von der nordamerikanischen Ostküste nach Alang gesteuert hatte. Jetzt, nach einer kleinen Feier in der Messe, schlafen er und seine Gäste alkoholselig in irgendwelchen Kammern des Schiffes.

Vivek stiert in die Dunkelheit. Er sucht zwei rote Lichter am Strand, Laternen, die an einem Mobilkran hängen, einzige Orientierungspunkte für den Kurs. Vorher hatte er den Tanker in einem weiten Bogen nahe an die Küste gesteuert. „Da!“ ruft Vivek und zeigt auf zwei winzige rote Punkte im Dunkel der Nacht. Er ändert den Kurs und steuert direkt auf das Signal zu. „Full ahead!“ ruft Vivek dem Matrosen am Maschinentelegraphen zu. „Full ahead!“ kommt es von dort zurück. Durch das Schiff geht ein Rütteln.

Die Lücke, in die Vivek den 22 Meter breiten Tanker steuern muss, erscheint groß genug, doch hat der Tanker erst einmal Grund unterm Kiel, wird er unkontrollierbar. Die Schwierigkeit ist, den Tanker genau im richtigen Winkel in die Lücke zwischen den herumliegenden Wrackteilen zu steuern.

Wer erwartet, dass die Strandung eines etwa 190 Meter langen Schiffes mit Ächzen und Stöhnen, Knirschen, Krachen oder Rucken geschieht, täuscht sich. Wie auf Butter gleitet der alte Dampfer zwischen zwei Schiffen und hausgroßen Wrackteilen auf den Strand von Alang. Keine Erschütterung geht durch das Schiff. Nicht einmal Viveks randvolle Tasse Instantkaffee schwappt beim Auflaufen über.

Danach ist es wie bei einer Theaterpremiere: Bhatia, seine Familie und Freunde stöhnen erleichtert auf und klatschen Beifall. Man klopft dem Lotsen freudig auf die Schulter. Die gute Strandung erspart Bhatias Arbeitern viel Mühe. Schon bald nach dem Einsetzen der Ebbe wird das Schiff trockenfallen, und die Gascutters können trockenen Fußes ihre Schneidbrenner an Bord bringen. Vom Schanzkleid aus blickt Bhatia runter auf die Abwrackwerft. Scheinwerfer erhellen nur spärlich das Durcheinander von herumliegendem Stahl, Winden, gewaltigen Zahnrädern, Kabineneinrichtungen, ausrangierten Rettungsbooten und allerlei Metallkleinkram. Nach zwei Stunden Wartezeit, es ist vier Uhr morgens, und der Bug der „Star Mist“ ist gerade trockengefallen, können Vivek, Bhatia und die anderen das Schiff verlassen.

Alang ist eine reine Männergesellschaft. 20000 Arbeiter, angeworben in armen ländlichen Regionen wie Bihar oder Uttar Pradesh, leben in provisorischen Slumhütten zu beiden Seiten der einzigen Straße, die sich vier Kilometer lang parallel zur Küste hinzieht. Das Bauholz der Shantytown stammt von den Schiffen, die Bauherren mussten es den Werftbesitzern von ihren schmalen Löhnen abkaufen. Von den Fensterlöchern ihrer Hütten blicken die Arbeiter auf das langgestreckte Gebirge der Schiffstorsos. Wie eine Herde erlegter Wale liegen sie da, einige nur als Gerippe, andere bereits bis zur Unkenntlichkeit von Schneidbrennern zerstückelt: Tanker, Bulkcarrier, Fischdampfer, Kreuzer, Passagierdampfer, Eisbrecher. Tagsüber ist der Schrottplatz ein Schlachtfeld. Flammen züngeln, schwarze Rußwolken verdunkeln den Himmel, und ein infernalischer Lärm dröhnt in den Ohren. Er kommt von den Gascutters, die stählerne Keile mit gewaltigen Vorschlaghämmern in Kolben treiben oder Stahlplatten mit Hämmern vor dem Abtransport vom Rost befreien.

Kaum sechs Stunden liegt die „Star Mist“ am Strand, da wird sie bereits ausgeweidet. Jayant, ein kleiner, drahtiger alter Mann, der früher selbst zur See gefahren ist und sich mit Schiffen auskennt, organisiert die planmäßige Plünderung des Tankers. „Alle wertvollen Dinge müssen zuerst von Bord“, sagt der Alte, „sonst fehlt später die Hälfte.“ Wie die Sachen verschwinden können, weiß Jayant nicht, „aber die haben immer irgendeinen Trick ausbaldowert, wie sie trotz der Leibesvisitation am Werfttor Schiffsteile herausschmuggeln können“. Begehrt sind vor allem elektronische Geräte, Küchenmaschinen, Fernseher und Hi-Fi-Geräte. Aber auch den Wert von alten messingbeschlagenen Steuerrädern, Bronzeglocken oder Messinglampen wissen die Eisenfresser mittlerweile einzuschätzen. „In den ersten Jahren wurden hier noch Radargeräte und Chronometer nach Gewicht verkauft“, grient Jayant, „aber diese Zeit ist längst vorbei.“

Zu den ersten Arbeiten an einem neuen Wrack gehört, dass die Gascutters Löcher in den Schiffsrumpf schneiden. Denn mit dem Auflaufen gibt es an Bord keine Energie mehr, und so kommt Licht nur durch die Löcher in der Bordwand hinein. Gleichzeitig sind sie der einzige Weg, der ins Schiff führt und wieder hinaus. Erst vor kurzem war dieser Engpass zwei Dutzend Arbeitern in einem Tanker zum Verhängnis geworden. Beim Schneidbrennen hatte sich Öl entzündet. Das Feuer schnitt den Gascutters den Weg zum Loch in der Bordwand ab. Alle kamen in den Flammen um.

Arbeitsunfälle, auch tödliche, erregen in Alang kein großes Aufsehen. Wo 20000 Menschen täglich im scharfkantigen Schrott herumlaufen, an den Füßen oft nur leichtes Schuhwerk, wo sie ölige Schiffsteile mit Gas und Feuer zerlegen und unter tonnenschweren Lasten herumlaufen, sind Verletzungen üblich.

„Schicksal“, sagt Sona Ram Jain, einer der 60 Werftbosse, „das ist Bestimmung.“ Für ihn, den gläubigen Hindu, haben die Unfallopfer in ihrem vorangegangenen Leben Schuld auf sich geladen und werden nun dafür bestraft. Während er zu seinem Lieblingsthema abschweift – die religiösen Prinzipien der Hindu-Religion der Jainisten –, dirigiert sein Sohn Lallashet mit dröhnender Stimme und großen Gesten den Kleinteileverkauf auf Plot 17. „Nein, nein!“ brüllt er einen jüngeren Mann an, der das Objekt seiner Begierde, einen rostigen Flaschenzug mit mehreren Kranhaken, verlegen in den Händen hält. Während Lallashet ihn danach ignoriert, arbeitet es im Gesicht des jungen Mannes. Er rechnet. „Lallashet, dann gib ihn mir für achthundert Rupien“, fleht er. Ohne ihn weiter zu beachten, lässt sich Lallashet von seinem Boy die Fußgelenke massieren. „Tausend Rupien“, jammert der Mann, fast schon weinend. Endlich lässt sich der Abwracker erweichen. Mit einem kurzen Nicken wird das Geschäft perfekt.


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mare No. 3

No. 3August / September 1997

Von Rolf Nobel

Rolf Nobel ist Mitarbeiter der Fotoagentur Visum. In Heft No.1 veröffentlichten wir seine Reportage über die Seacoaler in England.

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Vita Rolf Nobel ist Mitarbeiter der Fotoagentur Visum. In Heft No.1 veröffentlichten wir seine Reportage über die Seacoaler in England.
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Vita Rolf Nobel ist Mitarbeiter der Fotoagentur Visum. In Heft No.1 veröffentlichten wir seine Reportage über die Seacoaler in England.
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