Die Chronik der menschlichen Kälte

1890 reist der Schriftsteller Anton Tschechow in den Fernen Osten des Zarenreichs, um die Verhältnisse in den Straflagern auf Sachalin zu eruie­ren. Danach schreibt er sich seine Erschütterung von der Seele

Am 5. Juli 1890 traf ich mit dem Dampfer in der Stadt Nikolajewsk ein, einem der östlichsten Punkte unserer Heimat. Der Amur ist hier sehr breit, bis zum Meer sind es nur noch siebenundzwanzig Werst.“ Mit diesen Sätzen beginnt Anton Tschechows Reise­bericht „Die Insel Sachalin“, der drei Jahre später in einer liberalen Moskauer Mo­natszeitschrift in Auszügen erschien und 1895 als Buch. 

Der voluminöse Text machte im zaristischen Russland sogleich Furore – angefeindet vom reaktionären Establishment, begeistert aufgenommen von der kritischen Öffentlichkeit, die in Tschechows Dokumentation über die Leiden der Sachalin-Häftlinge eine Weiterschreibung von Dostojewskis drei Jahrzehnte zuvor erschienenen „Auf­zeich­nun­gen aus einem Totenhaus“ sah, in denen erstmals die Realität der Katorga geschildert worden war. 

Mit Tschechows mehr als 400-seitiger Reportage wurde die Repression sichtbarer denn je. Katorga bedeutete lebenslänglich, die Häftlinge mussten auch nach dem Ende ihrer Strafe in der unwirtlichen Nichtheimat bleiben, die sie, zwangsverpflichtet, zu kultivieren hatten – als Schiffer und Fischer, Bauern oder Bergleute. Nur so konnten Gebiete besiedelt werden, in deren Ödnis sich niemand freiwillig begeben hätte. 

Das galt auch für die weit abgelege­ne Insel Sachalin im Ochotskischen Meer. 950 Kilometer lang und 160 Kilo­meter breit ist das auf demselben Längengrad wie Japan gelegene karge Eiland. Von 1855 bis 1875 hatten sich Russland und Japan die Herrschaft auf Sachalin geteilt, ehe das Zarenreich – im Ausgleich für die Kurileninseln, die Japan erhielt – das ganze Territorium übernahm. Tschechows Studie über seinen dreimonatigen Aufenthalt war derart eindrucksvoll, dass sogar der berühmte Leo Tolstoi den damals erst 35-jährigen Kollegen auf sein Landgut in Jasnaja Poljana bat, um für seinen Roman „Auferstehung“ Informationen über die Katorga zu erbitten.

Weshalb ist Tschechows Buch, das ihn nach eigenem Bekunden zu einem neuen, ja wahrhaftigeren Schriftsteller gemacht hatte, in Deutschland beinahe unbekannt geblieben und seit Jahren im Buchhandel vergriffen? Vermisste das Publikum die ironische Leichtigkeit der Tschechowschen Erzählungen, die filigrane Eleganz der Theaterstücke? Dabei sind etwa die berühmten „Drei Schwestern“ eine bittere Hommage an die Felsengruppe „Drei Brüder“, von der aus Tschechow im August 1890 auf das bleierne Ochotskische Meer geblickt hatte. Hier, am östlichsten Ende des Zarenreichs, wo sich heute wie damals Russen und Japaner um territoriale Hoheit streiten, wuchs in ihm die gleiche düstere Stimmung, mit der die Inselbewohner ihr tristes Dasein beschrieben: „Meer ringsumher – Kummer mittendrin.“ 

Als Tschechow an jenem Julitag 1890 mit dem Dampfer im herunter­ge­kom­me­nen Nikolajewsk anlangt, ist er knapp drei Monate unterwegs – unter Strapazen, die er dezenterweise seinen Lesern nicht ­mitteilt. Ein Jahr zuvor war sein älterer Bruder an Tuberkulose gestorben, gerade 31 Jahre alt. Auch bei Anton Tschechow, der 1904 mit 44 Jahren sterben würde, zeigten sich die Symptome, sodass es dringlich schien, sich auf den bisherigen literarischen Erfolgen nicht auszuruhen und eine Welt zu entdecken jenseits des Kosmos des russischen Bürgertums. 

„Ich habe nicht die Pläne eines Humboldt“, schrieb er an seinen Verleger, der die Idee der Sachalinreise äußerst skeptisch aufgenommen hatte. Welche Leser würden sich schon für Häftlinge an der Peripherie des Zarenreichs interessieren? Der Arzt und Schriftsteller Tschechow, dessen Großeltern selbst noch Leibeigene gewesen waren, aber insistierte: „Sachalin nicht brauchen und uninteressant finden kann nur eine Gesellschaft, die die Menschen nicht zu Tausenden dorthin verbannt.“ Zur Vorbereitung las er unzählige Reiseberichte, ließ sich mit einem Vorschuss und einem Presseausweis ausstatten, die ihm – zusammen mit einem mündlichen Plazet des Petersburger Chefs der Hauptgefängnisverwaltung – den Tausende Kilometer langen Reiseweg ebneten. 

Im April 1890 stieg Tschechow am Moskauer Bahnhof in den Zug, setzte in Jaroslawl seine Reise auf einem Wolga­schiff fort und später auf einem Dampfer, der den Fluss Kama in Richtung Perm befuhr. Hier befand er sich bereits auf der sibirischen Sträflingsroute, mit dem Unterschied, dass die Unglücklichen den endlos scheinenden Weg zu Fuß zurücklegen mussten, während Tschechow auf dem Schiff bald von literarisch interessierten Notabeln umringt war, die etwas über den Zweck der Reise erfahren wollten. 

Drückende Hitze und beißende Kälte wechselten sich ab, in Jekaterinburg erlitt er eine Lungenentzündung, auf dem Landweg nach Krasnojarsk brach mehrfach die Achse der Kutsche, sodass durch den Schlamm gewatet werden musste. Die Lage besserte sich erst am Ufer des Baikalsees und auf dem Dampfer, der den riesigen Amur befuhr. 

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mare No. 156

mare No. 156Februar / März 2023

Von Marko Martin

Marko Martin, geboren 1970, Autor in Berlin, hat die (Wieder-)Lektüre Tschechows noch einmal deutlich gemacht, wie unhysterisch präzise und ohne jeden übersteigerten Lyrismus dieser schreibt und wes­wegen er ihn Dostojewski immer vorgezogen hat.

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Vita Marko Martin, geboren 1970, Autor in Berlin, hat die (Wieder-)Lektüre Tschechows noch einmal deutlich gemacht, wie unhysterisch präzise und ohne jeden übersteigerten Lyrismus dieser schreibt und wes­wegen er ihn Dostojewski immer vorgezogen hat.
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Vita Marko Martin, geboren 1970, Autor in Berlin, hat die (Wieder-)Lektüre Tschechows noch einmal deutlich gemacht, wie unhysterisch präzise und ohne jeden übersteigerten Lyrismus dieser schreibt und wes­wegen er ihn Dostojewski immer vorgezogen hat.
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