Die Bucht der versunkenen Hybris

Der Erste Weltkrieg ist zu Ende, der Versailler Friedensvertrag vom besiegten Deutschen Reich noch nicht unterzeichnet. Was tun, damit seine gefürchtete Kriegsflotte nicht in die Hände der Feinde fällt?

Vizeadmiral Ludwig von Reuter sitzt am 11. Mai 1919 am Metallschreibtisch seiner Kommandantenkammer auf dem Kreuzer „Emden“ und liest die englischen Zeitungen, die an diesem Tag an Bord gekommen sind. Sie berichten über die drakonischen Bedingungen, die die Siegermächte des Weltkriegs bei den Verhandlungen in Versailles dem geschlagenen Deutschland für den Abschluss eines Friedensvertrags stellen: Abtretung umfangreicher Reichsgebiete und sämtlicher Kolonien, Besetzung des Rheinlands und des Saargebiets durch französische Truppen, Zahlung gigantischer Kriegsentschädigungen, Anerkennung der alleinigen Kriegsschuld usw.

Ein Punkt beschäftigt den Militär besonders: Deutschland darf keine Panzer, U-Boote, Schlachtschiffe und Kriegsflugzeuge mehr besitzen, die Marine wird auf Küstenschutz beschränkt. Für die Annahme dieses Friedensvertrags gilt ein Ultimatum bis zum 21. Juni. „Jetzt war der Augenblick gekommen“, schreibt der Vizeadmiral, „wo ich mir über die möglichen Folgen der Ablehnung oder An­nahme der Friedensbedingungen durch das Deutsche Reich ein Bild machen musste, um danach meine Entschlüsse zu treffen.“

Ludwig von Reuter, gerade 50 geworden, ein drahtiger Mann mit militärisch kurzem Haarschnitt, knappem Schnauz- und kleinem Kinnbart, stammt aus einer preußischen Offiziersdynastie. Die Wahl fiel auf ihn, als ein Kommandeur gesucht wurde, der nach dem Kriegsende 1918 den Verband der deutschen Flotte zum Firth of Forth an der schottischen Ostküste führen soll. Dort wollen die Briten überprüfen, ob die Schiffe, wie vom Waffenstillstandsvertrag vorgeschrieben, entwaffnet sind.

Der Vertrag sieht vor, dass die deutschen Schiffe anschließend in einem neutralen Hafen interniert werden. Doch die englische Admiralität macht schon die Ankunft der deutschen Flotte – „wehrlos, ehrlos“, schreibt von Reuter – zum demütigenden Spießrutenlauf durch ein Spalier von 370 flaggengeschmückten alliierten Kriegsschiffen und zwingt den Verband nach der Entwaffnungskontrolle dazu, in englischen Gewässern zu bleiben.

In der Bucht von Scapa Flow, die von den südlichen Orkneyinseln gebildet wird, müssen die 74 Kreuzer, Linienschiffe und Torpedoboote vor Anker gehen. Englische Kriegsschiffe bewachen die Flotte, der verboten ist, die deutsche Flagge zu hissen. Die Besatzungen, insgesamt 4500 Männer, dürfen nicht an Land und sich gegenseitig nicht besuchen. Scapa Flow wird zur Touristenattraktion.

27. November 1918. Alle Schiffe liegen vor Anker. An den Aufbauten blättert die Farbe, an den Ankertrossen bilden sich Algenzöpfe, an Bord herrscht eintöniger Alltag. Eine der wenigen Abwechslungen bieten Kakerlakenwettrennen. „Auf dem Tisch wurden mit dicken Kreidestrichen so viele Bahnen abgegrenzt, wie sich Teilnehmer gemeldet hatten. Jeder Bewerber brachte in einer Streichholzschachtel seinen besten Renner mit. Wer den Kreidestrich überschritt, war disqualifiziert.“ Woche um Woche, Monat um Monat verrinnen. An eine Heimkehr der Schiffe glaubt am 11. Mai 1919 keiner mehr. Es ist der 134. Tag der Internierung.

Mitte Mai 1919. Mit Beginn des Ultimatums an die deutsche Reichsregierung verschärft die britische Admiralität die Zensur für den Internierungsverband. Der Verkehr mit der Heimat und der deutschen Marineführung wird unterbunden. Post aus Deutschland erreicht die Schiffe nur noch über die Zensurbehörde in London – mit einer Verzögerung von drei bis vier Wochen. Von Reuter deutet das als Vorsorgemaßnahme der Engländer. Sie bereiten sich nach seiner Einschätzung auf eine Ablehnung des „Gewaltfriedens“ durch die Reichsregierung vor. Auch der Vizeadmiral hält das für möglich. „Für diesen Fall musste mit dem Wiederausbruch des Krieges gerechnet werden.“ Er erwartet, dass dann „England nicht nur unsere vorzüglichen Schiffe in Besitz nehmen, sondern dass es sich auch ihrer gegen uns mit ganz besonderer und berechtigter Schadenfreude und sicher auch mit großem Erfolg bedient haben würde. Die deutsche Flotte England zu überlassen wäre daher Verrat“. Sein Fazit: „Bei drohender Kriegsgefahr oder bei Wiederausbruch des Krieges waren wir Offiziere verpflichtet, die deutschen Schiffe zu vernichten, also zu versenken.“

Der Kommandeur des deutschen Verbands rechnet mit einer handstreicharti­gen Besetzung seiner Schiffe durch die Engländer. Deswegen muss deren Versenkung heimlich, aber gut vorbereitet und notfalls auch „im letzten Augenblick“ durchgeführt werden. Seiner Kommandanten ist sich der Vizeadmiral bei diesem Plan sicher, nicht aber der Besatzungen. Die Männer sind von den Monaten des eintönigen Dienstes gereizt und von schlechter Verpflegung demoralisiert.

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mare No. 119

No. 119Dezember 2016 / Januar 2017

Von Peter Sandmeyer

Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, ist Autor in Hamburg. Vor sechs Jahren kam er auf einem Segeltörn nach Stromness, der kleinen Hafenstadt auf der Hauptinsel der Orkneys. Am Morgen erwachte der Hafen, wenn um 7.30 Uhr neun ehemalige Fischkutter mit Kompressoren und Männern in Neoprenanzügen an Bord ausliefen. Ziel der Hobbytaucher waren die Wracks auf dem Grund von Scapa Flow, östlich der Stadt.

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Vita Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, ist Autor in Hamburg. Vor sechs Jahren kam er auf einem Segeltörn nach Stromness, der kleinen Hafenstadt auf der Hauptinsel der Orkneys. Am Morgen erwachte der Hafen, wenn um 7.30 Uhr neun ehemalige Fischkutter mit Kompressoren und Männern in Neoprenanzügen an Bord ausliefen. Ziel der Hobbytaucher waren die Wracks auf dem Grund von Scapa Flow, östlich der Stadt.
Person Von Peter Sandmeyer
Vita Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, ist Autor in Hamburg. Vor sechs Jahren kam er auf einem Segeltörn nach Stromness, der kleinen Hafenstadt auf der Hauptinsel der Orkneys. Am Morgen erwachte der Hafen, wenn um 7.30 Uhr neun ehemalige Fischkutter mit Kompressoren und Männern in Neoprenanzügen an Bord ausliefen. Ziel der Hobbytaucher waren die Wracks auf dem Grund von Scapa Flow, östlich der Stadt.
Person Von Peter Sandmeyer