Die Ausgesetzten

Seit 1865 ist das hawaiische Kalaupapa Leprakolonie. Die Patienten lieben ihren einstigen Verbannungsort

Wer nun aussätzig ist, soll zerrissene Kleider tragen und das Haar lose und den Bart verhüllt und soll rufen: Unrein, unrein! Und solange die Stelle an ihm ist, soll er unrein sein, allein wohnen, und seine Wohnung soll außerhalb des Lagers sein.
3. Moses 13:45–46

Olivia Breitha wacht von der Wucht der Brandung auf. Die Wände ihres Holzhauses beben, und Olivia hört die Stimme Gottes. Im Rollstuhl fährt sie ans Fenster. Es ist dunkel, die Sonne braucht noch Stunden, um über die Klippen zu steigen. Wenn die Wellen haushoch gegen die Küste donnern, ist Winter in Hawaii.

Eine Stunde lang betet Olivia. Sie umfasst ihren Rosenkranz und betet für John, ihren vor 30 Jahren verstorbenen Ehemann. Sie betet für die Schwestern, die ihr jeden Tag die Verbände an den verkrüppelten Füßen wechseln. Sie betet für Pater Damien, dass er bald heilig gesprochen wird.

Erst mit dem Sonnenaufgang legt Olivia den Rosenkranz zur Seite. „Wie konnte ich jemals diesen Ort hassen?“, fragt sich die alte Frau. Auf einem Viehtransportschiff kam sie vor 67 Jahren nach Kalaupapa. An den Käfigen hingen Holzplatten. Es roch nach Kuhmist, aber der Boden war sauber. Sonnenlicht brach erst herein, als die SS „Hawaii“ auslief und die Matrosen die Sichtblenden an den Seiten wegnahmen. Kaum Wolken am Himmel, die Junisonne brannte auf die Patienten. Olivia bekam den schlimmsten Sonnenbrand ihres Lebens. Einige Patienten wurden seekrank. Olivia warf ihre lei – die Blumenkränze, die ihre Eltern ihr zum Abschied umgehängt hatten – ins Meer, als Symbol für ihre Rückkehr.

In einem Käfig saß auch Jim, hingerissen von der Schönheit der 21-Jährigen. Nur kleine, rosarote Hautflecken verrieten damals ihre Lepra. Die beiden kamen ins Gespräch. Sie erzählte Jim von der Oberschwester, die ihr im Krankenhaus zu Hause in Honolulu immer gedroht hatte: „In Kalaupapa fangen Männer die Frauen mit dem Lasso ein.“ Die beiden verabredeten, sich als Paar auszugeben.

Als sie nach der Tagesreise mit dem Boot an Land ruderten, stand das ganze Dorf auf der Pier. Hunderte von Patienten wollten die Neuen sehen. „Ich fürchtete mich unglaublich“, sagt Olivia. Im Heim lernte sie Toyo, die Japanerin, kennen. Deren Gesichtszüge waren verzerrt, einem Totenschädel gleich, ihre Beine und Hände verformt und mit einem Meer von Bandagen bedeckt. Und doch fühlte sich Olivia von Toyo angezogen, sie unterhielt sich oft mit der sanften Frau. Eine Annäherung, die Olivia ihre Zukunft wie ein dämonischer Zauberspiegel vorhielt. Jeden Abend weinte sie vor dem Einschlafen: Wie sehe ich am nächsten Morgen aus?

Olivia heiratete Jim. Doch der hielt das Leben in der Kolonie nicht aus und trank. Der nächste Ehemann verprügelte sie in der Kantine, wo sie beim Essenausgeben half. Noch heute geht sie aus Scham nicht dorthin. „Kalaupapa kann der einsamste Ort in der Welt sein“, sagt Olivia. Erst mit John wurde sie glücklich. Der Alltag kehrte in ihr Leben ein, ihre Hühnerfarm florierte. Manchmal schlief ihre Mutter heimlich auf dem Sofa im Wohnzimmer. Nicht nur Berührungen mit Besuchern waren aus Angst vor Ansteckung verboten, nicht einmal im gleichen Auto durften sie sitzen. Lange Zeit teilte ein hoher Zaun das Besucherzimmer.

Doch die Zeiten wurden schwerer. John starb 1972 an seiner Krankheit. Olivias Geschwüre am rechten Fuß heilten nicht. Die Ärzte wollten ihn amputieren. Ihre Gaumenplatte schmolz und entstellte ihr schönes Gesicht. Eine tiefe Depression überkam sie. Wie immer in schlechten Zeiten schrieb Olivia Briefe. An ihre tote Mutter, an ihren Fuß, an Gott. „Bitte, Gott, vergib mir all die Tränen. Ich kann mir nicht selbst helfen, wirklich. Du scheinst so weit entfernt zu sein. Oh Gott, bitte gib mir ein Zeichen. Oh Gott, hilf mir rasch. Es scheint kein Glück für mich zu geben. Ich fühle mich wertlos, ich kann es nicht glauben, so wertlos.“

„Horridior morte“, schrecklicher als der Tod, sei das Leiden, heißt es in mittelalterlichen Berichten. Bei der Lepra oder Hansen-Krankheit frisst sich das Mycobakterium leprae tief in die menschlichen Zellen hinein und zerstört sie in grausamer Langsamkeit. Das Bakterium befällt zuerst die Gliedmaßen und das Gesicht. Keinesfalls fallen Finger oder Nasen ab. Vielmehr heilen Infektionen nicht ab, der Knochen schmilzt, Klauenhände und Augenleiden sind die Folgeerscheinungen.

Die Erkrankten starben früher an Immunschwäche. Deformiert und ausgezehrt, konnten sie sich gegen andere Krankheitserreger nicht wehren. Erst seit den vierziger Jahren rettet eine Chemotherapie mit Sulfonen den Leprakranken das Leben. Seit 1963 wird das Antibiotikum Rifampicin in Kombination mit Dapson mit großem Erfolg angewendet. Doch die Patienten sind nicht geheilt. Ihre Krankheit wird nur zum Stillstand gebracht und die Ansteckungsgefahr gebannt. Seit mehr als einem Jahrzehnt gibt es in Kalaupapa keinen „aktiven Fall“ mehr.

mare No. 46

No. 46Oktober / November 2004

Von Thomas Jahn und Paolo Pellegrin

Thomas Jahn, Jahrgang 1966, ist Wissenschaftsjournalist und lebt in New York.

Paolo Pellegrin, Jahrgang 1964, lebt in Rom. 1995 erhielt er für seine Reportage über Aids in Uganda den World Press Award.
Die beiden hatten keine Scheu vor den Kranken auf der Insel. Vielmehr war es so, dass die Bewohner vor ihren Berührungen zurückschreckten. Henry die Hand zu schütteln oder Olivia zu umarmen wurde zu einer Ehren- und Herzenssache.

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Vita Thomas Jahn, Jahrgang 1966, ist Wissenschaftsjournalist und lebt in New York.

Paolo Pellegrin, Jahrgang 1964, lebt in Rom. 1995 erhielt er für seine Reportage über Aids in Uganda den World Press Award.
Die beiden hatten keine Scheu vor den Kranken auf der Insel. Vielmehr war es so, dass die Bewohner vor ihren Berührungen zurückschreckten. Henry die Hand zu schütteln oder Olivia zu umarmen wurde zu einer Ehren- und Herzenssache.
Person Von Thomas Jahn und Paolo Pellegrin
Vita Thomas Jahn, Jahrgang 1966, ist Wissenschaftsjournalist und lebt in New York.

Paolo Pellegrin, Jahrgang 1964, lebt in Rom. 1995 erhielt er für seine Reportage über Aids in Uganda den World Press Award.
Die beiden hatten keine Scheu vor den Kranken auf der Insel. Vielmehr war es so, dass die Bewohner vor ihren Berührungen zurückschreckten. Henry die Hand zu schütteln oder Olivia zu umarmen wurde zu einer Ehren- und Herzenssache.
Person Von Thomas Jahn und Paolo Pellegrin