Wenn Ottar Roaldset am Fenster seines alten Bauernhauses steht, blickt er von einer Anhöhe auf den Trongfjord. Weit kräuselt sich das Wasser, am Ufer gegenüber klammert sich Wald an den Fels. Zwei Tage im Jahr sieht er all die Schönheit nicht. Der Alte schaut dann nicht, er späht. Nach einem Boot. Gleich müsste es doch kommen. Vor drei Monaten war es zuletzt hier und brachte Abwechslung nach Torjulvågen. Roaldset wartet auf die „Epos“, die schwimmende Bibliothek.
Seit 25 Jahren besucht sie Roaldsets Dorf in Westnorwegen, etwa eine Autostunde südwestlich von Kristiansund. 250 Orte läuft die „Epos“ an in den Fjorden zwischen Trondheim und Stavanger. Von September bis April ist sie unterwegs, wenn Licht und Wärme so rar sind wie Touristen. An Bord der Kapitän, ein Matrose, zwei Bibliothekare und einige tausend Bücher, die sich die Dörfler leihen können, kostenlos und monatelang.
Außer Ottar Roaldset und seiner Frau leben knapp 100 Menschen in Torjulvågen. Es gibt keinen Laden hier und auch sonst nichts, was man Infrastruktur nennen kann, wenn man Straßen und Tunnel ausnimmt. Roaldset hat das nie gestört, weder als Kind noch heute, mit 74 Jahren. Er hat ja Bücher, sie bringen ihm die weite Welt auf sein Sofa vor dem Kamin. Er habe einmal versucht, seine Bücher zu zählen, sagt Roaldset, sein Schnurrbart weiß und dicht, über den Augenbrauen stehen senkrechte Falten. Bei 5000 habe er aufgegeben, es sei kein Ende in Sicht gewesen. Roaldset blickt auf die Uhr. An seinem Beobachtungsposten hat sich das Bücherboot wohl vorbeigemogelt. Nun aber schnell, es bleibt ja nur anderthalb Stunden in Torjulvågen! Roaldset greift den Jutebeutel mit den geliehenen Büchern, streift einen grauen Mantel über und schnürt sich schwarze Fußballstiefel. Für den Halt auf Schnee. Über die Dorfstraße, den Fjord zur Linken, geht es vorbei an eingeschneiten Treckern und roten Holzhäusern. Eisige Böen zerzausen Roaldset die Haare, bald hat die Kälte seine Ohren rot genagt. Eine Stichstraße, derzeit eher eine Eisbahn, führt hinab zum Wasser.
Dort liegt das Bücherschiff. Am Ufer kämpft ein Bootshaus gegen die Holzfäule, vor dem Steg allerlei übereinandergeworfene Planken, mit Draht provisorisch abgesperrt. Im Winter macht hier kaum ein Boot fest. Ottar Roaldset beugt seinen Rücken, steigt unter dem Draht hindurch und die Gangway hinauf. An der Schiebetür begrüßen ihn Hilde Gjessing und Vidar Kursetgjerde. „Ottar, da bist du ja endlich.“ Sie kennen den Büchermenschen von Torjulvågen schon lange, er ist einer der treuesten Benutzer des Bücherboots. Gjessing und Kursetgjerde arbeiten in der Bibliothek der Provinz Møre og Romsdal. Dort koordinieren sie Lesezirkel und Vorlesegruppen und versuchen, die öffentlichen Bücherhallen attraktiver zu machen. Zweimal im Jahr fahren sie mit dem Bücherschiff von Dorf zu Dorf, auch dies ein Versuch, mehr Menschen fürs Lesen zu begeistern. Nach zwei Wochen werden sie von Kollegen abgelöst.
Roaldset reicht Hilde Gjessing seinen Bücherbeutel, gemeinsam steigen sie die vier Stufen hinab in die Bibliothek. Im Hauptraum des Schiffes, wo im Sommer Ausflugstouristen um Tische sitzen, sind rundum Bücherregale an die Wände geschraubt. Bis auf ein paar Hocker und zwei Aufstellregale ist der Raum leer, durch die Fenster fällt Sonnenlicht auf den blauen Teppichboden. Die Bücher in den Regalen stehen hinter Aluminiumstangen, so fallen sie bei Seegang nicht heraus. Will man einen Band herausnehmen, lassen sich die Stangen entlang ins Holz eingelassener Führungen nach oben schieben. Entwickelt hat diese Bücherreling Vidar Kursetgjerde. Der 62-Jährige fährt seit drei Jahrzehnten auf der „Epos“. Doch fragt man ihn nach der alten Zeit, erzählt er wenig. Lieber holt er sein iPad, lädt einen Vortrag über das Bücherboot aus dem Internet und reicht das Gerät herüber.
Das Bücherboot, liest man nun, fährt seit 1959 durch die Provinzen Møre og Romsdal, Sogn og Fjordane und Hordaland. 700 000 Euro kostet das Projekt im Jahr. In den Anfangsjahren, als Brücken über die Fjorde und Tunnel etwas Besonderes waren, diente die schwimmende Bibliothek noch der Grundversorgung abgelegener Dörfer. Heute sind die Fahrzeiten zur nächsten Bücherhalle viel kürzer. So misst sich der Erfolg der „Epos“ nicht mehr allein an der Zahl entliehener Bücher. Als Flaggschiff der öffentlichen Bibliotheken soll sie vor allem Kinder und Jugendliche fürs Lesen begeistern, als Alternative zu Internet und Fernsehen. Dafür werden vor Ort in den Dörfern auch kleine Handbibliotheken eingerichtet. Meist sind es Lehrer oder Kindergärtner, die bis zu 300 Bücher bei sich deponieren und in der Gemeinde weiterverleihen. Bis zum nächsten Besuch der „Epos“.
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Philipp Jarke, Jahrgang 1975, lebt als freier Journalist im englischen Lancaster. In Erwartung tiefsten Winters hatte er sich für die Reportage mit langen Unterhosen eingedeckt. Als Geograf hätte er es besser wissen müssen: Dank Westwindzone und Golfstrom herrschte in Westnorwegen das gleiche Schmuddelwetter, dem er entfliehen wollte.
Der Fotograf Knut Egil Wang, Jahrgang 1974, hatte dieses Problem nicht. Als Norweger wusste er, was auf ihn zukommt. Wangs letzte Arbeit für mare über das Leben auf den Lofoten war in No. 63 zu sehen. Auch sie handelt von glücklichen Norwegern.
Vita | Philipp Jarke, Jahrgang 1975, lebt als freier Journalist im englischen Lancaster. In Erwartung tiefsten Winters hatte er sich für die Reportage mit langen Unterhosen eingedeckt. Als Geograf hätte er es besser wissen müssen: Dank Westwindzone und Golfstrom herrschte in Westnorwegen das gleiche Schmuddelwetter, dem er entfliehen wollte.
Der Fotograf Knut Egil Wang, Jahrgang 1974, hatte dieses Problem nicht. Als Norweger wusste er, was auf ihn zukommt. Wangs letzte Arbeit für mare über das Leben auf den Lofoten war in No. 63 zu sehen. Auch sie handelt von glücklichen Norwegern. |
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Person | Von Philipp Jarke und Knut Egil Wang |
Vita | Philipp Jarke, Jahrgang 1975, lebt als freier Journalist im englischen Lancaster. In Erwartung tiefsten Winters hatte er sich für die Reportage mit langen Unterhosen eingedeckt. Als Geograf hätte er es besser wissen müssen: Dank Westwindzone und Golfstrom herrschte in Westnorwegen das gleiche Schmuddelwetter, dem er entfliehen wollte.
Der Fotograf Knut Egil Wang, Jahrgang 1974, hatte dieses Problem nicht. Als Norweger wusste er, was auf ihn zukommt. Wangs letzte Arbeit für mare über das Leben auf den Lofoten war in No. 63 zu sehen. Auch sie handelt von glücklichen Norwegern. |
Person | Von Philipp Jarke und Knut Egil Wang |