Die Angst vor der großen Welle

Sollen die Deiche an der Nordsee eingerissen werden? Ein Streit zwischen Umweltschützern und Deichgrafen

Seit rund 1000 Jahren behauptet sich der Homo sapiens an der Küste gegen den „Blanken Hans“, die winterliche Sturmflut. Die schwache menschliche Kreatur hält die Urgewalt des Meeres allein mit Hilfe von Deichen in Schach. Nun fordern ausgerechnet Angehörige der eigenen Spezies – Umweltschützer und andere Hinterländler – die Öffnung der Wehrbauten, legen eine Liste mit möglichen Ausdeichungsarealen vor. Doch von diesem ökologischen Küstenmanagement wollen die Deichschützer nichts hören. Denn für sie gilt – heute mehr denn je – die tradierte Lebensregel: „Wer nich dieken will, muß wieken!“

Über Jahrhunderte gaben dabei die Jahreszeiten den Rhythmus vor: Während des Sommers schleppten mehr als 1000 Arbeitskräfte 14 Stunden täglich den schweren Kleiboden aus dem Watt in Karren an, um die Deichlinie aufzustocken. Die Länge des Deichstückes, das der Marschbauer unterhalten mußte, richtete sich nach der Größe seiner Ackerfläche. Über die Einhaltung der Pflichten wachen bis heute gewählte Deichgrafen, Schultheiße, Deichhauptmänner und Oberdeichrichter.

Aus dem ersten Erdwall von zwei Meter Höhe und vier Meter Breite wurde über die Jahrhunderte ein Damm, bis 80 Meter breit und knapp neun Meter hoch, gefestigt mit Beton, Basaltsteinen und Asphalt. Heute wird Norddeutschland von einer rund 1200 Kilometer langen Deichlinie umgrenzt, die mindestens einen Meter höher ist als vor der Flutkatastrophe von 1962.

Kein Deich, kein Land, kein Leben – dieser Spruch des Deich- und Sielrichters Albert Brahms aus dem 18. Jahrhundert ist noch immer das Motto der Küstenschützer. Bau und Inspektion der mittlerweile bauingenieurlichen Konstruktionen übernahmen Spezialisten; für die gewaltigen Kosten kommen Bund und Länder auf. Allein in die 615 Kilometer in Niedersachsen wurden in den letzten zehn Jahren 920 Millionen Mark investiert.

Trotzdem sind die Deichverbände wütend auf Politiker und Naturschützer. Seit der Einrichtung des Nationalparks Wattenmeer sehen sie die Sicherung der Deichanlagen in Frage gestellt. Salzwiesen sollen auf einmal wertvoller sein als sichere Deiche. Deshalb schränkt die Verwaltung die Nutzung des Deichvorlandes – zum Beispiel durch Schafe – immer weiter ein. Der entstehende Wildwuchs wird, von Sturmfluten entwurzelt, als Treibgut an den Deich gespült und kann ihn unterhöhlen. Gleichzeitig wird den Deichschützern verboten, den für den Deichbau idealen Kleiboden aus dem Deichvorland zu entnehmen. Und weil Bund und Land den Deichbau immer weniger fördern, schlug der Verband der Deichschützer Alarm: Reiße man nicht sofort das Ruder herum, werde eine der nächsten Sturmfluten vorhersehbar verheerende Folgen haben.

Die Mobilisierung archaischer Ängste zeigte Wirkung. Selbst Monika Griefahn, einst Greenpeace-Aktivistin und heute Umweltministerin Niedersachsens, schlug sich schließlich auf die Seite der Deichschützer und gab bekannt: 100 Kilometer Deich werden in den nächsten Jahren verstärkt.

Auch beim bisher einmaligen Deal „Pipeline gegen Deichöffnung“ machten die Behörden einen Rückzieher. Damit die Umweltschutzverbände BUND und WWF dem Bau einer inzwischen vollendeten Erdgasleitung durch den Nationalpark Wattenmeer zustimmten, hatte die Niedersächsische Staatskanzlei versprochen, einen Sommerdeich vor Dornumersiel zu öffnen und dem Watt ein Stück Marschland zurückzugeben. Noch während des Planfeststellungsverfahrens schuf das Staatliche Amt für Insel- und Küstenschutz Fakten: Es bewilligte 600000 Mark für die Instandsetzung des umstrittenen Objektes. Die Begründung, der Sommerdeich sei als Wellenbrecher unentbehrlich, klingt vorgeschoben. Diese Funktion könnten auch die neu entstehenden Salzwiesen übernehmen. Der eigentliche Grund dürfte psychologischer Natur sein: Deiche zu öffnen gleicht an der deutschen Küste noch immer einem Tabubruch!

Ehrlicherweise sollten die Küstenbewohner jedoch eingestehen, dass sie die Deiche der letzten Jahrzehnte nicht primär zur Gefahrenabwehr, sondern zur Vorwärtsverteidigung eingesetzt haben. Schritt für Schritt wurde dem Meer Land abgetrotzt. Die Forderung nach Sicherheit führte zum Bau ständig neuer Vordeiche im eigentlichen Wattbereich und die Menschen rückten nach. Noch 1989 wurden die Salzwiesen zwischen Nordstrand und der Hamburger Hallig großräumig eingedeicht – vier Dammlinien dokumentieren dort das etappenweise Vordringen.


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mare No. 3

No. 3August / September 1997

Von Wolfgang Korn

Wolfgang Korn, Jahrgang 1958, studierte Geschichte und Politische Wissenschaft. Er arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist mit den Schwerpunkten Umwelt und Archäologie in Hannover.

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Vita Wolfgang Korn, Jahrgang 1958, studierte Geschichte und Politische Wissenschaft. Er arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist mit den Schwerpunkten Umwelt und Archäologie in Hannover.
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