Die Adelsfrage

Wurde „Earl Grey“, die in aller Welt beliebte Teemischung, im Bauch eines Schiffes zu ihrem Ruhm geschüttelt?

Grosse Berühmtheiten nähren sich von den Mythen, die sie umranken. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Wort „Legende“ zweierlei bezeichnen kann: eine Person oder Sache von erheblichem Bekanntheitsgrad sowie eine glorifizierende Erzählung, der nur manchmal ein Kern von Wahrheit innewohnt. Schwarzer Tee, verfeinert mit dem Öl der Bergamotte, einer Zwitterfrucht aus Zitronatzitrone und Bitterorange, ist weltweit als „Earl Grey“ bekannt und populär wie keine andere aromatisierte Teesorte.

Die schönste Geschichte, die man bei einer Tasse des vornehm parfümierten Getränks über dieses verbreiten kann, ist leider gleichzeitig die unwahrscheinlichste. Auf hoher See sollen die beiden Inhaltsstoffe sich erstmals begegnet sein, eine Zufallsbekanntschaft im Sturmwind. Irgendwo zwischen China und den Gestaden Großbritanniens habe sich auslaufendes Bergamottöl mit Teeballen vereint. Der namensgebende Charles Grey, 2. Earl Grey, soll die wilde Mischung probiert und für gut befunden haben.

In einer anderen Version hat der Graf, während er dem Vereinigten Königreich von 1830 bis 1834 als Premier diente, die aromatisierten Blätter als Dankgeschenk eines chinesischen Mandarins erhalten; ein britischer Gesandter soll den Sohn des Chinesen vor dem Ertrinken gerettet haben. Die Gabe aus Fernost wiederum habe den Premier so beglückt, dass er ein Londoner Teehaus bat, ihren Ge­schmack zu kopieren. Das jedenfalls ist die Geschichte, welche die Nachfahren des Grafen gerne verbreiten, zusammen mit dem Anspruch auf das Originalrezept, für das sich der heutige, siebte Earl Grey mit seiner Signatur auf jeder Packung des britischen Hoflieferanten Twinings verbürgt.

Seinem Vorfahren hat man in Newcastle upon Tyne ein Denkmal errichtet, allerdings nicht für dessen unsicheres Erbe als Namensgeber eines Nationalgetränks. Seine Lebensleistung erstreckt sich von der Vaterschaft eines skandalumwitterten unehe­lichen Kindes, das einer heißen Affäre mit Georgiana Cavendish, der schönen und politisch aufbegehrenden Duchess of Devonshire, entsprang (ihr Mann unterband die Liaison ziemlich drastisch, das Kind wuchs bei Greys Eltern auf, Grey zeugte mit seiner Ehefrau 16 weitere Nachkommen, die Duchess lebte fortan mit einer Freundin und dem Duke in einer eher qualvollen Dreierbeziehung, aber das ist eine andere Geschichte, die mit Tee leider gar nichts zu tun hat), bis zur Durchsetzung einer Parlamentsreform, die für das Königreich ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Demokratie war. Earl Grey war außerdem eine treibende Kraft beim Verbot des Sklavenhandels in England.

Die Nation der Teetrinker indes rätselt weiterhin fast verzweifelt, wie der besondere Aufguss zu seinem Namen kam. Die Sprachwächter und -forscher des Oxford English Dictionary starteten 2012 einen Aufruf, um der Bezeichnung „Earl Grey Tea“ auf den Grund zu gehen. Die Ergebnisse der Hobbyrechercheure lassen an ihrer adligen Herkunft stark zweifeln.


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mare No. 119

No. 119Dezember 2016 / Januar 2017

Von Martina Wimmer

mare-Redakteurin Martina Wimmer hat stets behauptet, „Earl Grey“ sei ihr Lieblingstee. Zur Inspiration hat sie so viel davon getrunken, dass sie sich nun nicht mehr so sicher ist. Sie hätte das Kleingedruckte auf der Packung lesen sollen. Dort stand das böse Wort „Aroma“.

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Vita mare-Redakteurin Martina Wimmer hat stets behauptet, „Earl Grey“ sei ihr Lieblingstee. Zur Inspiration hat sie so viel davon getrunken, dass sie sich nun nicht mehr so sicher ist. Sie hätte das Kleingedruckte auf der Packung lesen sollen. Dort stand das böse Wort „Aroma“.
Person Von Martina Wimmer
Vita mare-Redakteurin Martina Wimmer hat stets behauptet, „Earl Grey“ sei ihr Lieblingstee. Zur Inspiration hat sie so viel davon getrunken, dass sie sich nun nicht mehr so sicher ist. Sie hätte das Kleingedruckte auf der Packung lesen sollen. Dort stand das böse Wort „Aroma“.
Person Von Martina Wimmer