Des Sonnenkönigs Lieblingstier

Austernessen im letzten Fischrestaurant des Pariser Hallenviertels

Abends liegt Paris am Meer. Dann mischt sich der Geruch von Tang in die Abgase am Boulevard de Clichy, und rings um die Bastille stehen plötzlich Männer in Ölzeug und Stulpenstiefeln, hinter sich die tropfenden Auslagen mit auf Eis gelegten Seespinnen, Schnecken, zu Blütenzacken geschnitzten Zitronen, Taschenkrebsen, Hummern.

Abends riecht diese Stadt anders, denn abends werden Meeresfrüchte gegessen. Die Pariser sind verrückt danach. Vielleicht, weil nicht wenige von ihnen bretonische Vorfahren haben. Vielleicht, weil in den „fruits de mer" noch der Geschmack vom letzten Urlaub ist. Vielleicht auch nur, weil diese Stadt schon seit jeher einen direkten Zugang zum Meer hatte: Von Boulogne an der Kanalküste erreichten die Fischkarren die Porte des Poissoniers, das Fischertor, rollten dann in großer Eile durch den Faubourg Poissonière und die Rue Poissonière zu den Markthallen.

Von all dem kann Jean-Pierre Devaux erzählen, und er tut es auch gerne, wenn gegen ein Uhr morgens die letzten Gäste gegangen sind. Dann steht der Koch des letzten Fischrestaurants im Hallenviertel auf der Sauval-Gasse, in nunmehr fleckiger Schürze und mit ständig rutschender Brille, und zeigt auf die Straßenecke, wo Molière geboren wurde, auf den Unterschlupf von Cosima und Richard Wagner in der Nummer 2 oder drüben auf die älteste Apotheke von Paris, wo sich die Aristokratie mit Geheimtinte für ihre Liebesbriefchen versorgte.

„Der größte Austern-Gourmand von allen hieß Louis XIV.", sagt Devaux. „Er schlürfte drei Dutzend und war noch nicht am Ende. Und als heimliche Monarchisten wollen die Pariser es ihm wohl immer noch nachmachen." Der Sonnenkönig kannte nur die flachen Austern, die Belons armoricaines, mit festem, sandfarbenem Fleisch oder die etwas farbenfreudigeren Marennes saintongeaises aus den Bänken hinter der Ile d'Obéron. Erst 1870 kamen bei einem Schiffbruch vor der Küste Aquitaniens jene Huîtres creux aus der Tiefe ans Licht, die in der Handfläche liegen, als seien sie dafür bestimmt.

Seit die alten Hallen in den Siebzigern abgerissen wurden, ruft Devaux jede Nacht um halb zwei seinen Lieferanten in den neuen Hallen im Vorort Rungis an, für die Bestellung des nächsten Tages. Während die Theaterbesucher noch ihr halbes Dutzend Austern mit Chablis schlürfen, ist in Europas größtem Frischmarkt schon wieder die Hölle los, rangieren die Kühllaster, brüllen die Aufkäufer, schwitzen die Träger. Nirgendwo sonst sind die Meeresfrüchte frischer als in Rungis. Drei Stunden nach dem Anlanden werden Atlantikfisch und Jakobsmuscheln umgeladen in rasendschnelle, beulige Peugeot-Transporter, mit denen die Restaurants beliefert werden.

L'Ostréa, die Auster, ist das einzige Restaurant im alten Hallenviertel, das auf seiner Speisekarte ausschließlich Fisch und Meeresfrüchte stehen hat. Das Lokal ist ein Zwei-Mann-Betrieb mit einem halben Dutzend Tischen, die Lokalität nüchtern wie ein Schluck Wasser. Bemerkenswertes passiert allein innerhalb der drei Quadratmeter Küche. Und auf den Tellern. Vom Tisch aus schaut man durchs Langustenbecken in die Küche und sieht derart zwischen bretonischen Hummern und Kieseln einen Monsieur Devaux wieseln. Sieht, wie er, um nicht alles einzureißen, mit sparsamsten Bewegungen Heringen frische Kräuter, Lorbeer und Thymian in den Bauch stopft, wie er scheinbar gleichzeitig Schalen knackt, nach Hummern käschert und Knoblauch, Eigelb, Olivenöl zum Aïoli rührt, wohinein dann Dorschstückchen, leicht gratinierte Artischocke, Fenchel, Tintenfisch, Schnecken getunkt werden wollen - das Lieblingsessen übrigens von Georges Duby, dem Mittelalterkundler, der hier öfters vorbeischaut.

Devaux hat sich das Kochen selbst beigebracht. Seit elf Jahren steht er sechs Tage die Woche zwischen seinen Pfannen, probiert und kostet, schmeckt und schnippelt. Das Grand Aïoli (200 Francs) und die Bouillabaisse (180 Francs) sind seine Spezialität und einen Tag im voraus zu bestellen. Die Passanten können von der Straße auf die Kupferpfannen schauen, und Devaux wäre der letzte, der ihnen nicht seinen Hareng crème erklären würde. Oder die zwei Schulen des Austernöffnens: „Die einen versuchen, beim Öffnen möglichst wenig Austernwasser zu verschütten. Die anderen kippen es weg und warten, bis sich neues gebildet hat. Ich gehöre zur zweiten Gruppe. Ich mag keine Kalkkrümel zwischen den Zähnen." Ganz ohne Schalenbruch lässt sich keine lebende Auster öffnen.

Es gibt in Paris gewiss Brasserien mit einem breiteren Angebot an Austernsorten. L'Ostréa hält nur eine strenge Auswahl bereit: „Nur die", sagt Devaux, „die mir selbst am besten schmecken: Fines de claires aus den Salzsümpfen von Marennes." Und es folgt ein von Abschmecken, Schlabbern, Durchs-Fenster-Grüßen unterbrochener Grundkurs in Ostreologie.

Demnach ist im Reich der Zuchtaustern dreierlei zu unterscheiden: Huîtres améliorées en claires, die einige Wochen in ihren Kästen wachsen dürfen; Huîtres fines de claires, die mindestens zwei Monate, und Huîtres spéciales de claires, die ein halbes Jahr und in geringer Populationsdichte wachsen. Letztere sind die fettesten, cremigsten, teuersten.

Die „Marennes" auf dem Eisteller des Jean-Pierre Devaux lassen sich an ihren grünspanfarbenen Kiemen erkennen. Denn nur in den Brackwassern der Austernparks südlich von Marennes lebt die Planktonart, die ein „marennine" genanntes Stöffchen sekretieren, welches die Austernkiemen färbt.

Sonst haben die Weichtiere kein Geheimnis: „Man kann sie mit Zitrone oder auf Pariser Art mit Vinaigrette beträufeln oder mit einer Champagnersauce. Aber am besten, am allerbesten sind sie ohne alles: nature."


L'Ostréa

4, Rue Sauval, F-75001 Paris
Telefon: (0033)1/402 608 07
geöffnet täglich von 12-14.30 sowie von 20-23.30 Uhr
Samstagmittag und Sonntag geschlossen

mare No. 1

No. 1April / Mai 1997

Von Alexander Smoltczyk und Maurice Weiss

Alexander Smoltczyk, 1958 in Berlin geboren, ist Reporter beim Spiegel. 1995 erhielt er den Kisch-Preis.

Maurice Weiss, Jahrgang 1964, lebt in Berlin. Er ist Fotograf der Agentur Ostkreuz.

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Vita Alexander Smoltczyk, 1958 in Berlin geboren, ist Reporter beim Spiegel. 1995 erhielt er den Kisch-Preis.

Maurice Weiss, Jahrgang 1964, lebt in Berlin. Er ist Fotograf der Agentur Ostkreuz.
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