Des Dichters späte Beichte

Besser gut geklaut als schlecht selbst gedichtet. Der Autor der „Schatzinsel“ über Inspiration und wichtige Vorbilder

Tatsächlich war’s weit davon entfernt, mein erstes Buch zu sein, denn ich bin nicht Romanschreiber allein. Aber ich bin mir wohl dessen bewußt, daß mein Zahlmeister, das Große Publikum, das, was ich ansonsten noch geschrieben, mit Gleichgültigkeit betrachtet, wo nicht gar mit Abneigung; wenn’s mir überhaupt seine Aufmerksamkeit schenkt, so schenkt’s mir diese in meiner bekannten und unauslöschlichen Gestalt; und wenn ich ersucht werde, von meinem ersten Buch zu sprechen, so steht um nichts in der Welt in Zweifel, daß mein erster Roman gemeint ist. …

In dem schicksalshaften Jahr ergab’s sich, daß ich eine Zeitlang bei meinem Vater und meiner Mutter in Kinnaird über Pitlochry wohnte. Da wanderte ich über die roten Moore am güldnen Bach entlang; die rauhe, reine Luft unsrer Berge weckte in uns neue Lebens-, wenn nicht gar neue Schaffensgeister, und meine Frau und ich schmiedeten Pläne für einen gemeinsamen Band mit Gespenstergeschichten, für welchen sie „Der Schatten auf dem Bett“ schrieb und ich „Thrawn Janet“ und einen ersten Entwurf von „Die muntren Männer“ lieferte.

Ich liebe meine Heimatluft, aber sie liebt mich durchaus nicht; und am Ende dieser wonniglichen Zeit stand eine Erkältung, ein Spanischfliegenpflaster und eine Wanderung über Strathairdle und Glenshee zum Castelton von Braemar. Da wehte es reichlich und regnete entsprechend; meine Heimatluft war liebloser noch als menschliche Undankbarkeit, und ich mußte mich dreinschicken, ein Gutteil meiner Zeit in den vier Wänden eines Hauses zu verbringen, welches als Cottage der verblichenen Miss McGregor traurige Bekanntheit genoß. Und nun bewundere man den Finger der Vorsehung.

Es war da im Cottage der verblichenen Miss McGregor über die Ferien ein Schuljunge zu Haus, welchen sehr nach „irgendwas Schroffem, sich den Verstand darüber zu zerbrechen“, verlangte. Er dachte nicht an Literatur, die Kunst Raffaels war’s, welche bis auf weitres seinen Beifall fand; und unter Zuhilfenahme von Feder und Tinte und einem Shillingkasten Wasserfarben hatte er bald eines der Zimmer in eine Gemäldegalerie verwandelt. Meine unverzüglichste Pflicht der Galerie gegenüber war’s, den Schausteller abzugeben; aber ich pflegte mich bisweilen was weniges freizumachen, dem Künstler (sozusagen) an der Staffelei beizuspringen und den Nachmittag mit ihm in großmütigem Wetteifern zu verbringen, indem ich bunte Zeichnungen verfertigte.

Bei einer dieser Gelegenheiten verfertigte ich die Karte einer Insel; diese war kunstvoll und (wie ich dachte) recht hübsch koloriert; ihre Umrisse nahmen meine Vorstellungskraft über alle Maßen in Beschlag; sie enthielt Häfen, welche mir gefielen wie Sonette; und unbewußt, wie die Schicksalsbestimmten handeln, etikettierte ich meine Hervorbringung „Schatzinsel“.

Ich habe mir sagen lassen, es gebe Menschen, welche um Landkarten nichts geben, und find es schwer, das zu glauben. Die Bezeichnungen, die Umrisse der Waldungen, der Verlauf der Straßen und Flüsse, die vorgeschichtlichen Fußstapfen des Menschen, welche hügelauf und talnieder immer noch so deutlich zu verfolgen sind, die Mühlen und die Ruinen, die Teiche und die Fähren, vielleicht ein Monolith oder ein Druidenzirkel auf der Heide; da liegt ein unerschöpflicher Fundus an Stoff für einen jeden Menschen mit Augen, um zu sehen, oder für zwei Pence Phantasie, um zu begreifen!

Kein Kind, welches sich nicht erinnern könnt, wie es den Kopf ins Gras gelegt, in den unendlich kleinen Wald gestarrt und diesen sich mit Märchenarmeen bevölkern gesehn hätte. So ungefähr auf die nämliche Weise begannen, wie ich über meiner Karte von der „Schatzinsel“ verharrt, die inskünftigen Wesen des Buches da sichtbar zwischen eingebildeten Wäldern aufzutauchen; und ihre braunen Gesichter und blitzenden Waffen linsten von unerwarteten Richtungen her daraus zu mir hervor, wie sie auf diesen paar Quadratzoll flacher Projektionsfläche kämpfend und schatzsuchend hin- und herhuschten. Das nächste, wessen ich mir bewußt wurde, war, daß ich Papier vor mir liegen hatte und eine Liste der Kapitel aufstellte. Wie oft habe ich solches getan, und weiter ist die Sache nicht gediehen! Aber in diesem Unterfangen, da schien einiges an Erfolgversprechendem zu stecken.

Es sollte eine Geschichte für Jungen werden; Psychologie oder feinsinnige Schreibweise waren nicht vonnöten; und ich hatte einen Jungen gleich bei der Hand als Prüfstein. Frauen blieben ausgeschlossen. Ich war nicht imstande, mit einer Brigg umzugehen, aber ich dacht, ich könnt’s hinkriegen, sie als Schoner zu segeln, ohne mich öffentlich zu blamieren. Und dann hatte ich eine Idee für John Silver, von welcher ich mir einen beträchtlichen Grundstock an Unterhaltung versprach; nämlich einen bewunderten Freund meiner zu nehmen (welchen der Leser sehr wahrscheinlich ebenso kennt und bewundert wie ich), ihn all seiner feinsinnigeren Eigenschaften und höheren Manierlichkeiten zu berauben, ihm nichts als seine Stärke, seinen Mut, seine Schnelligkeit und seine prächtige gute Laune zu belassen und zu versuchen, dieses alles nach Maßgabe der Umgangsformen eines rauhbeinigen Janmaats zum Ausdruck zu bringen.

Solcherart Seelenchirurgie ist, denke ich, eine durchaus übliche Methode, um „einen Charakter zu zeichnen“; tatsächlich ist’s womöglich die einzige Methode. …


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mare No. 36

No. 36Februar / März 2003

Von Robert Louis Stevenson

Auszüge aus Mein erstes Buch ,Schatzinsel‘, in Robert Louis Stevenson: Schatzinsel, aus dem Englischen neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Friedhelm Rathjen, Haffmans Verlag, Zürich, 1997

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Vita Auszüge aus Mein erstes Buch ,Schatzinsel‘, in Robert Louis Stevenson: Schatzinsel, aus dem Englischen neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Friedhelm Rathjen, Haffmans Verlag, Zürich, 1997
Person Von Robert Louis Stevenson
Vita Auszüge aus Mein erstes Buch ,Schatzinsel‘, in Robert Louis Stevenson: Schatzinsel, aus dem Englischen neu übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Friedhelm Rathjen, Haffmans Verlag, Zürich, 1997
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