Der Wal

Eine wundersame Begegnung während einer Flaute

Vor Tagen hat der Wind zu wehen aufgehört. Seither ist das Meer ein gläserner Zauber. Flaute. In ihrem Bann dümpelt einsam ein kleines Segelschiff. Eine Frau und ein Mann sind darauf zu Hause auf ihrer Reise um die Welt. Galapagos liegt schon hinter ihnen.

Wie an jedem dieser windstillen Tage ruhen sie träge auf den Bänken im Salon. Bewegung würde sie zu sehr erschöpfen in der feuchtheißen Schwüle. Sie warten. Auf den kühleren Abend. Auf den Wind.

Manchmal scheint es, als sei er gekommen. Die beiden springen hoffnungsvoll auf und hissen das weiße Segel. Aber immer ist es nur eine alleinreisende Wolke mit dem ihr eigenen Wind im Gefolge. Kaum hat die Bö das Segel gebauscht, raschelt es schon wieder in sich zusammen. Der Schweif des Windes rippelt winzige Wellen hinter sich her. Ihre Bewegungen werden wieder langsam.

In der Ferne bricht lautlos Regen aus milchweißen Wolken. Daneben ist der Himmel blau. Regenbögen leuchten Brücken über das Meer.

Die Frau wünscht, der Wind möge kommen und bleiben. Aber heimlich wünscht sie auch, er möge nicht. Sie hat sich noch nicht sattgesehen an dem gläsernen Zauber, noch nicht sattgehört an der berauschenden Stille. Flaute. Bisher war das für sie nur ein Wort ohne Gestalt und Gefühl. Jetzt ist sie heimlich dankbar.

Im Morgengrauen geht die Frau barfüßig und leise über das Deck. Sie atmet tief ein und sieht sich langsam um. Das Meer ist eine endlos wogende Scheibe. In seiner Mitte hebt und senkt es die Frau und das Schiff. „Das ist das Atmen des Meeres“, denkt sie gleich jenem legendären französischen Einhandsegler, der diesen Ausdruck prägte und der seinen sicheren Regatta-Sieg verschenkte, weil er einfach noch nicht ankommen wollte. Es ist ganz still.

Dann kommt die Sonne und macht alles durchsichtig. Den Himmel. Die Luft. Das Meer. Die Frau steht an der Reling und schaut hinunter auf das klare Wasser. Ihre Augen weiten sich. Für einen Augenblick vergisst sie zu atmen.

Ein Buckelwal hat sich neben den Rumpf des Schiffes gelegt, überragt seine Länge. Die ungeheure, die unglaubliche Begegnung verwandelt die Frau. „Wie bei Kafka“, denkt sie, „nur schöner.“

„Wal“, sagt sie verzaubert und legt sich mit pochenden Schläfen auf das Deck, um ihm näher zu sein. „Wal“, sagt sie wieder, und eineinhalb Meter unter ihr erwidert ein schwarzweißes Auge ihren Blick.


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mare No. 8

No. 8Juni / Juli 1998

Von Milda Drüke

Milda Drüke, geboren im Jahr 1949, absolvierte eine kaufmännische Lehre und arbeitete anschließend als Bilddokumentarin in der Bildagentur ZEFA und als Studio-Managerin im Werbefotograf Studio. Nach der kaufmännischen Lehre zog sie für ein Jahr als au pair in die USA. 1981 gründete sie die Firma Photo Management. Von 1986 bis 1990 umsegelte sie die Welt. 1991 absolvierte sie mehrere Praktika bei marieclaire, München und Antenne Düsseldorf. Woraufhin sie ihre Zeit ab 1992 wieder dem Reisen widmete - von den Anden zum Himalaja, sie segelte auf dem pazifischem und indischem Ozean und umschiffte das Kap der Guten Hoffnung. Veröffentlichungen hatte sie daraufhin im SZ-Magazin, in der Elle, marieclaire, Brigitte, Segeln, Yacht und mare (No. 5). 1999 verbrachte sie fünf Wochen auf einer Yacht in den östlichen Gewässern Papua Neu Guineas. Auf dem Festland beauftragte sie den Bau eines Segelkanus, den sie über 4 Monate begleitete. Dabei entstand ein Buch über das Leben einer melanesischen Solidargemeinschaft und ihrer legendären Kanubauer. Milda Drüke beschreibt sich als Autodidaktin, die um authentisch berichten zu können, fotografiert und schreibt seit 2001 Bücher. Sie reist immer allein, ist bewusst unerreichbar und versucht auch niemanden zu erreichen. So kann sie sich ohne Ablenkung darauf einlassen die Natur von Menschen und Meeren zu erfahren.

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Vita Milda Drüke, geboren im Jahr 1949, absolvierte eine kaufmännische Lehre und arbeitete anschließend als Bilddokumentarin in der Bildagentur ZEFA und als Studio-Managerin im Werbefotograf Studio. Nach der kaufmännischen Lehre zog sie für ein Jahr als au pair in die USA. 1981 gründete sie die Firma Photo Management. Von 1986 bis 1990 umsegelte sie die Welt. 1991 absolvierte sie mehrere Praktika bei marieclaire, München und Antenne Düsseldorf. Woraufhin sie ihre Zeit ab 1992 wieder dem Reisen widmete - von den Anden zum Himalaja, sie segelte auf dem pazifischem und indischem Ozean und umschiffte das Kap der Guten Hoffnung. Veröffentlichungen hatte sie daraufhin im SZ-Magazin, in der Elle, marieclaire, Brigitte, Segeln, Yacht und mare (No. 5). 1999 verbrachte sie fünf Wochen auf einer Yacht in den östlichen Gewässern Papua Neu Guineas. Auf dem Festland beauftragte sie den Bau eines Segelkanus, den sie über 4 Monate begleitete. Dabei entstand ein Buch über das Leben einer melanesischen Solidargemeinschaft und ihrer legendären Kanubauer. Milda Drüke beschreibt sich als Autodidaktin, die um authentisch berichten zu können, fotografiert und schreibt seit 2001 Bücher. Sie reist immer allein, ist bewusst unerreichbar und versucht auch niemanden zu erreichen. So kann sie sich ohne Ablenkung darauf einlassen die Natur von Menschen und Meeren zu erfahren.
Person Von Milda Drüke
Vita Milda Drüke, geboren im Jahr 1949, absolvierte eine kaufmännische Lehre und arbeitete anschließend als Bilddokumentarin in der Bildagentur ZEFA und als Studio-Managerin im Werbefotograf Studio. Nach der kaufmännischen Lehre zog sie für ein Jahr als au pair in die USA. 1981 gründete sie die Firma Photo Management. Von 1986 bis 1990 umsegelte sie die Welt. 1991 absolvierte sie mehrere Praktika bei marieclaire, München und Antenne Düsseldorf. Woraufhin sie ihre Zeit ab 1992 wieder dem Reisen widmete - von den Anden zum Himalaja, sie segelte auf dem pazifischem und indischem Ozean und umschiffte das Kap der Guten Hoffnung. Veröffentlichungen hatte sie daraufhin im SZ-Magazin, in der Elle, marieclaire, Brigitte, Segeln, Yacht und mare (No. 5). 1999 verbrachte sie fünf Wochen auf einer Yacht in den östlichen Gewässern Papua Neu Guineas. Auf dem Festland beauftragte sie den Bau eines Segelkanus, den sie über 4 Monate begleitete. Dabei entstand ein Buch über das Leben einer melanesischen Solidargemeinschaft und ihrer legendären Kanubauer. Milda Drüke beschreibt sich als Autodidaktin, die um authentisch berichten zu können, fotografiert und schreibt seit 2001 Bücher. Sie reist immer allein, ist bewusst unerreichbar und versucht auch niemanden zu erreichen. So kann sie sich ohne Ablenkung darauf einlassen die Natur von Menschen und Meeren zu erfahren.
Person Von Milda Drüke