Der Vogelmensch

Im Jahr 1819 reiste der Vogelkundler Johann Friedrich Naumann nach Sylt. Zwei Monate lang erforschte, dokumentierte und zeichnete er dort die Vogelwelt. Das zwölfbändige Werk, das hieraus entstand, machte ihn zum Urvater der deutschen Ornithologie

Von Anhalt aus ging es drei Tage über Land nach Hamburg und einen weiteren per Schiff die Elbe hinab bis zum Marktflecken Brunsbüttel. Anschließend fuhr die kleine Reisegruppe mit dem Wagen an der Küste entlang Richtung Norden, um in Husum wieder auf ein Segelschiff umzusteigen. Die Seefahrt führte schließlich über Pellworm und Amrum bis zur Insel Sylt, ein aufziehender Sturm forderte zudem einige Umwege. 

Erreichen wir heute binnen Stunden bequem die Insel, so unternahm 1819 ­niemand eine solche Reise nur zum Vergnügen. Beschwerlich waren die Wege zu Zeiten Goethes und Humboldts, und es war letztlich der Forscherdrang, der Johann Friedrich Naumann zusammen mit einigen weiteren Vogelkundlern nach Nordfriesland zog. „Der Zweck meiner Reise war rein naturhistorisch; ich wollte besonders die Seevögel, die ich meist nur aus Kabinetten kannte, selbst aufsuchen, sie bey ihren Nestern beob­achten, ihr Betragen und ihre Lebensart kennen lernen und sie mit eigner Hand erlegen.“ 

Es war die Zeit der großen Bestandsaufnahme, der Jäger und Sammler unter den Naturforschern. Naumann, der als Begründer der Ornithologie in Mitteleuro­pa gilt, fertigte viele hervorragende Zeichnungen und Aquarelle an – Fotos konnte er damals noch nicht schießen. Aber er schoss auch, aus heutiger Sicht befremdlich, auf seiner Syltreise zig Vögel mit Schrot, um ihre Bälge auszustopfen. Seine rund 1300 Präparate haben überlebt und sind heute im einzigen ornithologiegeschichtlichen Museum der Welt untergebracht, dem Naumann-Museum im Ferdinandsbau des Köthener Schlosses in Sachsen-Anhalt. Dort befindet sich nahezu der gesamte Nachlass des legendä­ren Vogelkundlers in einem originalen Biedermeierensemble.  

Schon während seiner Schiffsreise von Husum nach Sylt beobachtete Naumann erstmals Seeschwalben, die zwar an die ihm von Elbe und Mulde bekannten Flussseeschwalben erinnerten, aber doch etwas anders aussahen. Ihre Beine waren kürzer, die Schnäbel kleiner, die gesamte Gestalt erschien ge­duckter, dafür war der Schwanz viel länger als bei den Flussseeschwalben, die seinerzeit noch gar nicht an den Küsten vor­kamen. 

Naumann hatte, so schien es, eine neue Meerschwalbenart, die er Küs­ten­see­schwalbe nannte, entdeckt – ein Vogel, der uns heute im Wattenmeer vertraut ist und dort auf Inseln und Halligen brütet. Später musste er einräumen, dass andere vor ihm bereits die Küstenseeschwalbe beschrieben hatten. Doch deren Ver­öffent­lichungen fanden nicht die gleiche Aufmerksamkeit und Verbreitung wie die von Naumann. 

Da die Reisegesellschaft unter dem unaufhörlichen Seegang litt, legte das Schiff ganz im Süden Sylts an, was ungewöhnlich und gefährlich in der damaligen Zeit war. Vom unbesiedelten Hörnum aus gingen Naumann und seine Gefährten bis Morsum zu Fuß weiter, um für den Rest des Wegs bis zum Ziel am nördlichen Ende der Insel noch einmal einen Pferdewagen zu besteigen. 

Dort angelangt, waren die Naturforscher tief beeindruckt von den „Dünen­gebirgen“ und Stränden des Ellenbogens, die übervoll von brütenden Seevögeln ­waren. Tausende Silbermöwen begeisterten sie geradezu. „Unbeschreiblich schön ­waren sie, wenn sie so paarweise vor uns standen“, schwärmte Naumann. „Das blendendste, reinste Weiß, als Hauptfarbe, mit dem angenehmen leichten Aschblau des Rückens sanft ineinander verschmolzen, die sammetschwarzen Enden der großen Schwungfedern mit ihren schneeweißen Spitzchen, der goldgelbe Schnabel mit dem prächtig rothen Fleck, das liebliche gelbe Auge, alles zusammen macht ein vortreffliches Ganzes.“ 

Dort, im Norden der Insel, besuchte Naumann den sogenannten Eierkönig, der mit seinen Gehilfen in einer Hütte mitten unter den Seevögeln lebte, um deren Gelege zu bewachen. Das Absammeln von Möwen- und Seeschwalbeneiern diente damals zur Ernährung der Inselbevölkerung, und so stammten auf Sylt die Frühstückseier lange Zeit von Seevögeln. Die großen Kolonien machten eine Hühnerhaltung auf der Insel überflüssig. Auch Naumann bekam etliche Eier für seine Sammlung – und die Warnung, das Schießen der Vögel in Grenzen zu halten und sie nicht allzu sehr zu beunruhigen. Naumann hielt sich daran – und konzentrierte sich auf die Betrachtung der Sylter Vogelwelt. 

Bei seiner Wanderung durch die Dünen beobachtete Naumann Goldregenpfeifer, Brandgänse und Seeadler, und er fand die Nester von Sturmmöwen und Eiderenten. Die beeindruckendsten Erlebnisse aber hatte er am Nordstrand des Ellenbogens, wo er auf Tausende der scheuen Brandseeschwalben traf und wo direkt vor seinen Füßen an die 600 Raubseeschwalben, die „Köni­ge der Meerschwalben“ (Naumann), aufflogen. 

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mare No. 161

mare No. 161Dezember 2023 / Januar 2024

Von Sebastian Conradt

Der Hamburger Autor Sebastian Conradt, Jahrgang 1967, ist selbst ein passionierter Seevogelkundler.

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Vita Der Hamburger Autor Sebastian Conradt, Jahrgang 1967, ist selbst ein passionierter Seevogelkundler.
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