Der Treibholzeffekt

Unscheinbare Schönheit kommt hier groß heraus. Ein Hamburger sucht und findet ausgefallenes Treibgut an den Nordseeküsten und präsentiert es den Besuchern seines Cafés als Interieurobjekte

Am besten sind die Tage, sagt Frank Walbeck, an denen es richtig stürmt. Wenn die Nordsee wild ist und tobt, wenn die Wellen unermüdlich den Strand schlagen. Dann fährt der 46-Jährige mit seinem Land Rover an die Westküste Dänemarks, direkt auf den Strand. Er steigt aus und zieht einsam und windgepeitscht an der Brandung entlang.

Walbeck sucht Treibholz. Er bückt sich nach fast jedem Holzstück, nimmt es in die Hand, wendet es, streicht über die Kanten. Er ist streng. „Von 100 Stücken, die ich in Hand nehme, landen am Ende vielleicht fünf in meiner Karre.“ Das kann eine kleine Schiffsplanke sein. Oder ein zentnerschwerer Dalben mit rostigen Schrauben. Mit der Ausbeute fährt er zurück nach Hamburg.

Am Anfang war da ein riesiger Treibholzhaufen in Walbecks Garten in Hamburg. Über Jahre hat er ihn angehäuft, ziellos. „Mein hölzerner Fetisch“, sagt er. Am Ende ist da ein Café namens „Tide“, ein Zweiraumladen, versteckt in einer schmalen Seitenstraße im Viertel Ottensen. Deutschlands einziger Gourmetladen mit Treibholzgalerie. Ein Feinkostgeschäft mit selbst gemachtem Holunderblütensirup, Marmeladen, einer beeindruckenden Tee- und Kaffeeauswahl und ungewöhnlichen Köstlichkeiten wie die hübsch eingelegten Sprotten im Glas, verfeinert mit dem holzigen Aroma der Esche.

Und dazwischen ist die Geschichte eines Mannes mit einer Leidenschaft für gutes Essen und schöne Dinge, die das Meer ihm vor die Füße spült. Von alldem erzählt das „Tide“. Keine Ecke, in der sich nicht Treibholz findet. Besucher sitzen auf verwitterten Gartenstühlen, hinter ihnen Planken an der Wand. Auf einer alten Werkbank liegen Baumstümpfe, im Flur hängen lange Planken als Regale.

Prunkstück ist ein meterhoher Baumstamm, der an der Wand lehnt und den Türpfosten überragt. Vor drei Jahren hat er die Pappel im Land Rover von Island nach Hamburg gebracht, rund 50 Stunden Fährfahrt via Dänemark. 3500 Euro kostet der Stamm, dazu gibt es ein liebevoll gestaltetes Büchlein mit Koordinaten zum Fundort und dem Transportweg.

Wer, bitte, ist so verrückt und zahlt Geld für Treibholz? „Man muss schauen, was man für sein Geld bekommt“, sagt Walbeck. „Es ist eben ein einmaliges Stück Holz.“ Wer nehme sich schon die Zeit, stundenlang am Strand nach Treibholz zu suchen? Und wer hat den geschulten Blick dafür, wie ein meerwassernasses Stück trocken aussehen könnte? „Wenn jemand die Preise unverschämt findet, sag ich: Dann such dir’s doch selbst.“

Minimalistisch inszeniert er sie im „Tide“, legt einen Zweig mit roten Pfefferkörnern darauf, dazu eine Trockenblume – fertig ist der Augenschmeichler.

Es ist wohl sein Designstudium, das den Blick dafür schulte – und ihn auch zum Kochen brachte. Fast die ganze Studienzeit jobbte der Westfale nebenbei in Restaurants und finanzierte sich so. Trotz fehlender Ausbildung arbeitete er sich in die obere Liga der Feinschmeckertempel in Hamburg hoch. Seine Vorlieben: Saucen, Desserts und Eingemachtes.

Nach jahrelangem Rackern in der Küche und undankbaren Arbeitszeiten kam die Idee auf: Warum nicht all diese Köstlichkeiten verpacken und verkaufen, kombiniert mit einem Laden für Treibholz? Schließlich fragten immer öfter Freunde nach dem Haufen in seinem Garten. Sie waren auf der Suche nach einer besonderen Lampe oder einem Schreibtisch aus alten Planken. So entstand vor acht Jahren das „Tide“.

In der kleinen Küche verarbeitet Walbeck seitdem alles, was Freunde wiederum aus ihren Gärten anschleppen. Hier entstehen die legendären Himbeertartes, Rhabarberchutneys und der „Tide“-Klassiker, das Tomatenpesto mit Pinienkernen. Die Sprotten legt er in Salz ein und versieht sie mit einem besonderen Aroma, indem er Späne von der Esche beifügt. „Perfekt zu Pellkartoffeln“, sagt er. Holz kann eben mehr als aus einem ganz netten Rotwein einen umwerfenden Barrique machen oder dem Grillfleisch die besondere Note geben.

Eingelegte Sprotten
Zutaten (für 4 Personen)
1 Kilogramm Sprotten, 500 Gramm feines Meersalz, etwa 1 Kilogramm grobes Salz, rote Pfefferkörner, Wacholderbeeren, Koriandersaat, Dillsamen, Lorbeerblätter, Salbeiblätter, 2 bis 3 Esslöffel Holzspäne von der Kernesche (am besten frisch vom Tischler).
Zubereitung
Sprotten säubern und ausnehmen. Innen und außen mit feinem Salz einreiben, in einer Schale schichten und fünf Stunden kalt stellen. Danach mit Küchenpapier trocken tupfen. Eine Schicht grobes Salz in ein Weckglas füllen, dann die Sprotten (mit Gewürzen und Spänen) und Salz wechselweise schichten, zuoberst Salz streuen. Zugedeckt im Kühlschrank eine Woche ziehen lassen, dann luftdicht verschließen. Nach vier Monaten haben die Sprotten ihr volles Aroma entwickelt. Vor dem Verzehr einige Stunden in Milch oder Wasser legen. Dazu Pellkartoffeln servieren.

Tide Treibholz & Feinkost
Rothestraße 53, Hamburg (Ottensen), Telefon +49 40 41111499, geöffnet Mo–Fr 8–18, Sa 10–18 Uhr, www.tide.dk

mare No. 99

No. 99August / September 2013

Von Marlies Uken und Jörg Modrow

Marlies Uken, Jahrgang 1977, arbeitet als freie Journalistin u.a. für die ZEIT und das Greenpeace Magazin. Sie studierte Volkswirtschaftslehre und Politik an der Universität zu Köln und besuchte dort die Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft. Nach Stationen in New York, Shanghai, Prag und Hamburg lebt die gebürtige Ostfriesin inzwischen mit ihrer Familie in Berlin.

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Vita Marlies Uken, Jahrgang 1977, arbeitet als freie Journalistin u.a. für die ZEIT und das Greenpeace Magazin. Sie studierte Volkswirtschaftslehre und Politik an der Universität zu Köln und besuchte dort die Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft. Nach Stationen in New York, Shanghai, Prag und Hamburg lebt die gebürtige Ostfriesin inzwischen mit ihrer Familie in Berlin.
Person Von Marlies Uken und Jörg Modrow
Vita Marlies Uken, Jahrgang 1977, arbeitet als freie Journalistin u.a. für die ZEIT und das Greenpeace Magazin. Sie studierte Volkswirtschaftslehre und Politik an der Universität zu Köln und besuchte dort die Kölner Journalistenschule für Politik und Wirtschaft. Nach Stationen in New York, Shanghai, Prag und Hamburg lebt die gebürtige Ostfriesin inzwischen mit ihrer Familie in Berlin.
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