Der Treck der Tundraraupen

Querfeldein bis an den Arktischen Ozean. Mit alten Kettenfahrzeugen transportieren wagemutige Fahrer im Winter Menschen und Güter durch Russlands hohen Norden

Die Tundra beginnt eine Stunde vor Workuta. Im Fenster des Wagens verschwinden die letzten Fichten und Birken, eine Schneewüste breitet sich vor uns aus. Die hiesigen Jäger laufen auf Skiern durch diese Landschaft, Transporte durch die Tundra werden mit ausrangierten Militärkettenfahrzeugen gemacht. Ihretwegen sind wir nach Workuta gekommen, 150 Kilometer nördlich des Polarkreises. Bis zur Küste der Karasee ist es in direkter Linie etwas näher. Aber durch die Tundra führen keine geraden Straßen. Auf dem Bahnhof von Workuta erwartet uns Artjom von der Kettenfahrzeugkooperative, die uns auf eine Tour zur Siedlung Ust-Kara mitnehmen wird. Artjoms Lederjacke demonstriert Verachtung gegenüber der Kälte, ich dagegen sehe aus wie Neil Armstrong auf dem Mond: ein wattierter Anzug, Thermounterwäsche, an den Füßen Stiefel mit Filzeinlagen. „Heute morgen hatten wir minus 30 Grad“, sagt Artjom. „Das ist nicht kalt. Letzten Winter hatten wir bis minus 49!“

Eine Stunde später stehen wir in einem riesigen Hangar, der Garage für die Raupenfahrzeuge. „Wesdehod“, „die überall hingehen“, heißen sie hier. Sogar die schwersten von ihnen, 17-Tonner, „Witja“, Recke, genannt, wirken hier kompakt. Ljoscha kommt hinter den Maschinen hervor. Er lächelt. Im Gesicht Motorölspuren. Sergej, der Fotograf, und er sind Bekannte, sie umarmen sich. Die nächste Tour nach Ust-Kara wird Slawa übernehmen, wichtigster Mann der Kooperative und Eigentümer der Maschinen. Er hat ein ramponiertes Nasenbein, einen harten Gesichtsausdruck. „Und, fahren wir?“, frage ich. „Mal sehen“, antwortet Slawa und verschwindet hinter den Maschinen. Ljoscha ist ebenfalls abgetaucht. Auch die Übrigen geben sich nicht mit uns ab – Artjom, der schweigsame Oleg, Edik alias „der Lette“. Eine Stunde später lässt Slawa im Vorbeigehen fallen: „Morgen.“ Wir fahren zu Ljoscha, um bei ihm zu übernachten.

Morgen. Oder übermorgen. Oder in ein paar Tagen. Russisches Tempo. Ein eigenes Verhältnis zur Zeit. Wohin sollte man es auch eilig haben? Hinter und vor einem liegt die Ewigkeit, in dunkler Polarnacht. Wenn man sich schlecht auf die Tour vorbereitet, kann man in dieser Ewigkeit stecken bleiben. Die Kettenschlepper haben 30, 40 Jahre auf dem Buckel, eigentlich gehören sie in den Schmelzofen. Und Telefone gibt es in der Tundra keine. Letzten Sommer hat jemand das einzige Satellitentelefon in einen Bach fallen lassen, und es ist für immer verstummt.

Bei Ljoscha zu Hause hören wir bis spät in die Nacht Geschichten. Wie er einmal 18 Tage lang in der Tundra festgesessen und mit bloßen Händen in einem Bach Fische gefangen hat. Als Slawa und Oleg ihn endlich gefunden hatten, servierte ihnen Ljoscha über dem Lagerfeuer gebratenen Fisch und flehte sie an: „Bitte nicht einschlafen! Sprecht mit mir!“ Wenn wir stecken bleiben, wird es keine Fische geben, und es wird sehr kalt sein. Vor einem Monat hatte der Zylinderblock des Wesdehod, mit dem wir fahren wollen, auf einmal Löcher. Man warf ihn weg. Doch dann stellte sich heraus, dass man auf einen neuen Block zwei Monate würde warten müssen. Das Teil wurde aus dem Müll wieder hervorgekramt, und Ljoscha schweißte zwei Tage lang die Löcher zu. „Hält er durch?“, frage ich. Ljoscha lächelt: „Das könnt ihr in der Tundra überprüfen.“

Am Tag streifen wir durch Workuta. Die Stadt ist in den 1930er Jahren entstanden, als Kohle noch etwas wert war. Arbeiter kamen in Gefangenentransporten, Workuta, Inta, Uchta waren im Grunde gigantische Zwangsarbeiterlager. Aber die Kohle ist Vergangenheit. Die Einwohnerzahl hat sich um ein Drittel verringert. Workuta heute: Schneewehen, fünfstöckige Wohnblocks, Holzhäuser mit Bretterbude im Hof, die Toilette. Auf dem Markt frieren hinter der Scheibe eines Kiosks Orchideen aus Ecuador. Daneben verkauft eine alte Frau Rentierfellstiefel. Im Schnee liegt haufenweise gefrorener Fisch.

Am Abend kommt Slawa vorbei und bringt uns zu sich nach Hause. Er holt ein Fotoalbum hervor. Aufnahmen aus dem Leben eines Kettentreckerfahrers: die Tundra, die Ausläufer des Urals, die Küste des Meeres. Die Raupen bezwingen Flüsse, erklimmen Steilhänge. Slawa am Lagerfeuer sitzend. „Eine Maschine haben wir in einem See versenkt, wir hatten Frost. Zwei Tage lang haben wir in einem Eimer Lumpen verbrannt, um uns aufzuwärmen.“ Als sie das Fahrzeug mithilfe eines zweiten ans Ufer gezogen hatten, war die Kabine von einem durchsichtigen Eisklotz ausgefüllt. Die darin eingefrorenen Wodkaflaschen schlugen sie mit der Axt heraus.


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  mare No. 72

No. 72Februar / März 2009

Von Wladimir Potapow und Sergej Issakow

Wladimir Potapow, Jahrgang 1956, früherer Chefredakteur der russischen Ausgabe des Geo-Magazins, lebt in Moskau. Er war zum ersten Mal jenseits des Polarkreises und überrascht, dass er dort weniger fror als im Winter in New York.

Sergej Issakow, geboren 1974, stammt aus einem kleinen Dorf im Ural und arbeitet seit Jahren an einem Fotoprojekt über die Routen der Menschen im Norden Russlands. Die Wesdehod entdeckte er, als er nach einer günstigen Reisemöglichkeit nach Ust-Kara suchte.

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Vita Wladimir Potapow, Jahrgang 1956, früherer Chefredakteur der russischen Ausgabe des Geo-Magazins, lebt in Moskau. Er war zum ersten Mal jenseits des Polarkreises und überrascht, dass er dort weniger fror als im Winter in New York.

Sergej Issakow, geboren 1974, stammt aus einem kleinen Dorf im Ural und arbeitet seit Jahren an einem Fotoprojekt über die Routen der Menschen im Norden Russlands. Die Wesdehod entdeckte er, als er nach einer günstigen Reisemöglichkeit nach Ust-Kara suchte.
Person Von Wladimir Potapow und Sergej Issakow
Vita Wladimir Potapow, Jahrgang 1956, früherer Chefredakteur der russischen Ausgabe des Geo-Magazins, lebt in Moskau. Er war zum ersten Mal jenseits des Polarkreises und überrascht, dass er dort weniger fror als im Winter in New York.

Sergej Issakow, geboren 1974, stammt aus einem kleinen Dorf im Ural und arbeitet seit Jahren an einem Fotoprojekt über die Routen der Menschen im Norden Russlands. Die Wesdehod entdeckte er, als er nach einer günstigen Reisemöglichkeit nach Ust-Kara suchte.
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