Der Tag, als Halifax verlosch

1917 explodiert in dem kanadischen Hafen ein Munitionsschiff. Es wird zum Inferno für Tausende Menschen

Die freiwilligen Helfer in der provisorischen Leichenhalle sind genau instruiert worden. Hunderte, manchmal Tausende Menschen strömen täglich in den Keller der Schule an der Chebukto Road. Sie suchen nach der Ehefrau, dem Mann, dem Vater oder der Mutter, den Kindern. Die Hilfskräfte geleiten die Suchenden durch die langen Reihen der mit weißem Leinen bedeckten Leichen. Sie sind angewiesen, die Angehörigen zuerst zu den Toten zu führen, deren Gesichter zu erkennen sind. Dann dürfen sie vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, die Laken über jenen Leichnamen anheben, die so entstellt sind, dass sie sich kaum identifizieren lassen. Manche Laken dürfen auf keinen Fall beiseite geschoben werden. Unter ihnen liegen die Verbrannten, Zerquetschten und Zerfetzten, Arme, Beine, Köpfe, Rümpfe, Gewebe. Daneben, in einem kleinen Stoffbeutel verwahrt, persönliche Gegenstände, die bei den Überresten gefunden wurden. Ein Schlüsselbund. Ein Kettchen mit Anhänger. Ein Kruzifix. Ein Schulheft. Ein Liebesbrief vom Verlobten an der Front.

Hunderte von Toten liegen im fahlen Dämmerlicht weniger Glühbirnen auf dem Boden dieses Schulkellers. Die Rettungskräfte haben jeden, den sie unter den Trümmern der Stadt gefunden haben, mit einem Kärtchen versehen. „Frau, gefunden in der Nordwestecke des Kellers im Flynn-Wohnblock. Lag dort mit Kindern.“ Oder: „Nr. 480. Ohne Kopf. Alter ungewiss.“ Manchmal konnten die Suchtrupps nicht einmal feststellen, wie viele Leichen vor ihnen lagen. Ein Kärtchen musste trotzdem ausgefüllt werden. „Überreste von drei, vielleicht auch sechs Körpern“, steht dann da, „überbracht in einem Wäschekorb.“ Manche liegen jetzt schon seit zehn Tagen hier. Ein Glück, dass es so kalt ist, in Halifax im Dezember 1917.

Der Morgen des 6. Dezember 1917 verheißt einen klaren, hellen, windstillen Frühwintertag. Nur ein leichter Dunst liegt über den Docks und Landungsstegen von Halifax. Seit dem vergangenen Abend warten Kapitän Aimé Le Médec und die Crew der „Mont Blanc“ auf die Einfahrt in den Hafen der 50000-Einwohner-Stadt an Kanadas Atlantikküste. Die schmale Passage durch die Netze, die deutsche U-Boote von dem Hafen fernhalten sollen, ist immer vom späten Nachmittag bis zum nächsten Morgen geschlossen. Le Médec blieb nichts anderes übrig, als draußen vor dem Hafen zu ankern. Im vierten Jahr des Ersten Weltkriegs haben sich die Seeleute an solche Vorsichtsmaßnahmen längst gewöhnt. Die „Mont Blanc“ hat von New York aus Kurs auf die Hauptstadt der Provinz Neuschottland genommen. In Halifax, so hat man dem Kapitän versprochen, kann sie sich einem von Zerstörern begleiteten Konvoi anschließen, in dessen Geleit sie unbehelligt von deutschen U-Boot-Angriffen über den Atlantik nach Bordeaux gelangt.

Le Médec und seine 41 Mann starke Crew wissen, dass eine Atlantikpassage ohne bewaffneten Geleitschutz einem Himmelfahrtskommando gleichkommt. Die „Mont Blanc“, ein schon reichlich abgewirtschafteter Dampfer in Diensten der französischen Compagnie Générale Transatlantique, ist eine 100 Meter lange, mit dünnem Schiffsstahl ummantelte Bombe. Ihre Fracht besteht aus mehr als zweieinhalbtausend Tonnen Sprengstoff, bestimmt für den Einsatz in Granaten und Kartätschen auf den Schlachtfeldern Frankreichs: 2300 Tonnen Pikrinsäure, 200 Tonnen TNT, zehn Tonnen Schießbaumwolle, 35 Tonnen Benzol. Mit Ausnahme des Benzols ist die explosive Fracht in den Laderäumen verstaut; die stählernen Benzolfässer hat man in New York auf dem offenen Deck vertäut.

Um 7.30 Uhr früh erhält die „Mont Blanc“ endlich die Genehmigung zur Einfahrt in den Hafen. „Halbe Kraft voraus“, weist Kapitän Le Médec an. Er steht auf der Brücke, zusammen mit dem Hafenlotsen Francis Mackey, der abends zuvor an Bord gekommen ist. Auf dem Weg ins Hafenbecken muss die „Mont Blanc“ die Narrows passieren, eine Engstelle, zweieinhalb Kilometer lang und knapp 500 Meter breit, gesäumt von Landungsstegen, Reparaturwerften, Kasernen, Fabriken und Holzhäusern von Richmond, einem dicht besiedelten Stadtteil im äußersten Norden von Halifax. Vorschriftsmäßig halten Kapitän und Lotse die „Mont Blanc“ auf der rechten Seite der Narrows. Plötzlich sieht Mackey hinter einem Landvorsprung vier Schiffsmaste aus dem Morgendunst herausragen. Sekunden später taucht hinter der Landzunge, weniger als einen Kilometer entfernt, ein großes Schiff auf. Mit hoher Geschwindigkeit steuert es durch die Narrows auf die „Mont Blanc“ zu – genau in ihrer Fahrrinne.

„Deutsche starten neue Offensive zur Einnahme Venedigs“ hatte an diesem Morgen die Lokalzeitung „Halifax Herald“ verkündet. Seit fast dreieinhalb Jahren wogt der Erste Weltkrieg zwischen den Schützengräben Europas hin und her. Die französischen und britischen Truppen sind dringend auf Nachschub aus den amerikanischen Munitionsfabriken angewiesen. Alle zwei Wochen stechen 40 bis 50 Schiffe mit Waffen, Sprengstoff und Munition von amerikanischen Häfen aus Richtung Frankreich in See. Seit das deutsche Kaiserreich im Februar den uneingeschränkten U-Boot-Krieg wieder aufgenommen hat, verlieren die Alliierten enorm viele Schiffe. Jetzt sind sie auf jeden Kubikmeter Laderaum angewiesen. Nur so erklärt sich, dass selbst ein alter, langsamer Dampfer wie die „Mont Blanc“, bis unters Deck voll gestopft mit hochexplosiver Ladung, auf die gefährliche Route über den Atlantik geschickt wird.

Halifax ist einer der wichtigsten Nachschubhäfen des britischen Empire, dem Kanada bis zu seiner Unabhängigkeit 1931 angehört. Tag für Tag werden Frachter mit Waffen, Munition, Pferden und Medikamenten beladen. Truppen aus Kanada, von den Karibikinseln und – seit dem Kriegseintritt der USA im April – aus den Vereinigten Staaten schiffen hier gen Osten ein. Bei Nacht werden die Verwundeten von den Lazarettschiffen an Land gebracht. Die Bevölkerung soll die schwer Versehrten von Europas Schlachtfeldern möglichst nicht zu Gesicht bekommen.

In der Bevölkerung wächst unterdessen die Angst, dass Halifax wegen seiner Bedeutung als kriegslogistisches Drehkreuz der Alliierten das erste Ziel eines deutschen Angriffs auf nordamerikanisches Festland werden könnte. Werden kaiserliche Schlachtschiffe die Stadt unter Beschuss nehmen? Zeppeline ihre Bombenlast über Halifax abwerfen? U-Boote alles versenken, was im Hafen vor Anker liegt? Nichts scheint ausgeschlossen im Dezember 1917.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 68. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 68

No. 68Juni / Juli 2008

Von Andreas Molitor

Andreas Molitor, Jahrgang 1963, lebt in Berlin und schreibt unter anderem für das Wirtschaftsmagazin brand eins. In mare No. 66 beleuchtete er das schmutzige Geschäft mit den Tiertransporten zur See.

Mehr Informationen
Vita Andreas Molitor, Jahrgang 1963, lebt in Berlin und schreibt unter anderem für das Wirtschaftsmagazin brand eins. In mare No. 66 beleuchtete er das schmutzige Geschäft mit den Tiertransporten zur See.
Person Von Andreas Molitor
Vita Andreas Molitor, Jahrgang 1963, lebt in Berlin und schreibt unter anderem für das Wirtschaftsmagazin brand eins. In mare No. 66 beleuchtete er das schmutzige Geschäft mit den Tiertransporten zur See.
Person Von Andreas Molitor