Der Strand

Jahrzehntelang stand der Orchard Beach im New Yorker Stadtteil Bronx als Ghettostrand in Verruf. Heute ist er ein sicheres, liebenswürdiges Refugium für die Bewohner der Metropole

Es ist Samstagnachmittag und das Wochenende schön wie ein noch nicht ausgepacktes Geschenk. Der Sandstrand ist breit, das Wasser blau, und der Blick auf den Sund von Long Island lässt vergessen, dass man in New York ist. Ein bisschen die Augen zukneifen, und der Radioturm von High Island und die Säulen der Throgs-Neck-Brücke, die die Stadtteile Queens Bronx verbindet, werden zu Schiffen am Horizont irgendeines Sehnsuchtsstrands.

Lachmöwen stehen in der Luft, zwei Frauen schieben einen Kinderwagen. Sie sind beide 21 und wohnen in Woodlawn, dem irischen Viertel der Bronx. Eine Stunde Fahrt mit dem Bus bis zum Orchard Beach. Niemand habe ein Auto hier, sagt Rebecca und redet von dem Ghetto, den Schwarzen, den Hispanics. Sie selbst ist halb armenisch, halb ungarisch, hat dunkle Augen, eine olivfarbene Haut und hält nicht inne im Reden, während sie das Smartphone checkt. Ihre Freundin Theresa, die Mutter des Babys, ist still. Mit einer Stimme, die blass ist wie die von Sommersprossen gesprenkelte Haut, sagt sie dann, sie sei halb irisch, halb französisch. Theresa hat blaue Augen und eine so delikate Figur, dass sie den Boden nicht zu berühren scheint beim Gehen.

„Chocha Beach“ nenne man den Strand, sagt Rebecca, was im Latinojargon eigentlich „Pussystrand“ heißt; sie meint, es sei wegen der Windeln und anderer Babysachen.

Sie ist überrascht, dass es gar nicht so schlimm ist, und will wiederkommen. Beide gehen sie nicht ins Wasser, weil es zu kalt ist. Doch dem Kleinen, sieben Monate alt, gefällt es herumzuplanschen. Sie haben Tiere gesehen, Einsiedlerkrebse und Stechrochen. Sie wolle Medizin studieren, sagt Theresa, auch wegen des Sohnes, den sie „Remedy“ getauft hat, „Heilmittel“. Remedy schläft, liegt versteckt unter Decken. Theresa hofft, er werde einmal die Welt erwecken.

Pelham Bay Park, 1888 eröffnet, ist der größte öffentliche Park von New York City. Der Orchard Beach im nordöstlichen Abschnitt wurde in den 1930er Jahren geschaffen. Robert Moses, der Erbauer, war für das New York des 20. Jahrhunderts, was Georges-Eugène Baron Haussmann für das Paris des 19. war. Beide kreierten sie die Städte, wie wir sie heute kennen. Robert Moses änderte Küstenlinien, baute Brücken, Tunnels und Schnellstraßen, holte den Hauptsitz der Vereinten Nationen nach Manhattan und opferte für Autobahnen den öffentlichen Verkehr, obwohl er keinen Führerschein hatte.

Als leidenschaftlicher Schwimmer war es für ihn keine Frage, dass man einen Strand schaffen muss, wenn es die Gelegenheit dazu gibt. So ließ er ein Drittel der Bucht von Pelham aufschütten und mit 920 000 Kubikmeter Sand garnieren, der mit Lastkähnen von Sandy Hook, New Jersey, und den Rockaways in Queens geholt wurde.

Der Orchard Beach, die „Riviera von New York City“, wurde einer der populärsten der sieben Strände des Big Apple. Ohne Tingeltangel und ächzende Achterbahn wie Coney Island, aber mit viel Freiraum und ruhigem Wasser für alle, die nicht in ein fernes Badeparadies fliegen können oder wollen.

Ganze 1,8 Kilometer lang und in Form einer Sichel liegt der Strand so natürlich da, als hätten ihn schon die indianischen Ureinwohner von Manna-hatta benutzt. Vincent Reese, 65-jährig, war am Orchard Beach zum ersten Mal Anfang der fünfziger Jahre da. Er war fünf Jahre alt, bewaffnet mit Eimerchen, Schäufelchen und einer ein volles Jahr älteren Schwester. Sie bauten Sandburgen, und Vincent ist, als sei

es gestern gewesen: das Kinderglück der Selbstvergessenheit, die Verwirrungen der Gefühle des Heranwachsenden, der hier schwamm und Mädchen traf. Er lächelt beim Erzählen auf der Bank der Strandpromenade, an der sein gelbes Rennrad lehnt, die Wangen rosig, der Schnurrbart weiß.

Nach mehrjähriger Abwesenheit ist Vincent wieder in die Bronx zurückgekehrt; vom Hutchinson River Parkway, an dem er wohnt, führt ein Radweg direkt zum Orchard Beach. Als Vincent klein war, waren die Strandbesucher so weiß wie der Sand; Iren, die als Busfahrer, Polizisten und Feuerwehrmänner arbeiteten; Juden, die kleine Läden hatten und dafür sorgten, dass die Kinder eine gute Schulbildung erhielten. Das Kokain, sagt Vincent, habe dann die Bronx zerstört; die Bilder brennender Mietskasernen und gesprengter Hochhäuser aus den Siebzigern sind immer noch im Kopf, wenn man nur schon den Namen hört.

Es ist besser heute, aber nicht viel. Vincent ist Sozialarbeiter an einer Privatschule und hat mit schwierigen Kindern zu tun, die nur einen Elternteil haben. Sie kennen alle jemanden, sagt er, der ermordet wurde.

Eine Gruppe Schwarzafrikaner flaniert vorbei, die Männer in Anzügen mit weißem Hemd, Krawatte und Hut, die Frauen in wallenden, farbenprächtigen Gewändern mit bunten Kopftüchern und reichem Schmuck. Es sind Ghanaer, und Vincent erzählt vom regen Familienleben, das sie hätten, von ihren Kindern, die keine Probleme machten. Anders als die Schwarzamerikaner kämen sie nicht aus der Sklaverei und seien nie abhängig von der Wohlfahrt gewesen. Die Schwarzen aus Afrika und die aus Amerika wollten denn auch nichts miteinander zu tun haben und seien sich so fremd wie Leute verschiedener Hautfarbe, sagt Vincent.

Die ersten außereuropäischen Immigranten am Orchard Beach waren die Puerto Ricaner, die in den sechziger Jahren, und die Dominikaner, die in den Siebzigern kamen. Letztere, sagt Vincent, hätten oft Kinder von mehreren Frauen, wollten aber nicht heiraten und Verantwortung übernehmen, weshalb die katholische Kirche begonnen habe, Gruppenhochzeiten zu organisieren, um sie unter die Haube zu bringen.

In jüngster Zeit kommen auch die Albaner an den Strand, die sich in der Bronx niedergelassen haben. Sie erstaunen Vincent, hart arbeitend, wie sie seien, und erfolgreich im Immobiliengeschäft. Sie kauften Häuser und renovierten sie, hätten sich rasch etabliert und dabei, stolz auf die Geschichte ihres Volkes, ihre Wurzeln nicht vergessen. Vincent hat keine Theorie, die ihm einen Lehrstuhl in Ethnologie an einer Universität verschaffen würde. Die Lebenserfahrung hat ihn gelehrt, weshalb die einen reüssieren und die anderen nicht. „Es ist die Familie, die zählt“, sagt er. „Eine zu haben ist für den Erfolg viel wichtiger als Geld.“

Zur Freiheit des Strandlebens gehört, mit Stolz seinen Körper zeigen zu dürfen oder sich dessen nicht schämen zu müssen. Mit der Selbstzufriedenheit, mit der einer seine gebräunten Muskeln spielen lässt, führt ein anderer seine weiße Wampe spazieren. Zusehen darf man allen, auch das gehört zu den Spielregeln des Strandes und dem Reiz, ihn zu besuchen.

Da wären: ein schwarzer Sportler, der sein Bein auf Brusthöhe reißt, den Fuß gegen das Geländer hämmert und die Glieder mit Babyöl einreibt, bis sie in der Sonne funkeln; ein hagerer Weißer, der ein chromglänzendes Schwinn Phantom Baujahr 1951 zur Schau stellt und zum Classics Bronx Club gehört, dem Verein der Radfahrer, die den Harley-Davidson-Typen die Hölle heiß machen; eine füllige schwarze Mama, die sich auf dem Badetuch ausbreitet und von ihrer mit bunten Haarspangen geschmückten Tochter umtanzt wird wie die Sonne; eine milchweiße Frau mit dickem Hintern, die einen chinesischen Sonnenschirm in die Luft streckt, als mache er sie leichter; eine zierliche Asiatin, die mit ihrer eleganten Seidenbluse und den passenden Slacks einer Boutique entsprungen scheint; eine dunkelhäutige Frau im grellorangen Netzbadekleid, das die Blicke auf sich lenkt wie ein Seestern in der Badewanne; ein schlankes weißes Paar, das sich an einem teuren Kinderwagen festhält und den Blick nicht vom Inhalt lassen kann; ein junger Mann mit umgehängter Badetasche, der laut ins Blaue lacht, das sich als Handy entpuppt; ein Polizist in blauer Uniform mit Pistole und Handschellen, die Unterarme tätowiert wie ein schwerer Junge; und eine Frau mit weißen Shorts, gelbem Strohhut und violettem T-Shirt, worauf steht „I love pink“.

Arthur Guints sieht aus, als komme er von den Dreharbeiten für „Baywatch“. 22 Jahre alt, braun gebrannt, blaue Augen, blondes Haar und Muskeln wie ein Modell von Michelangelo. Als Strandwächter verbringt er den Tag auf einem Hochsitz, wie die Jäger ihn haben. Er ist einer von neun, wenn alle Strandabschnitte offen sind, doch jetzt ist die Hälfte geschlossen, und alles liegt Arthur zu Füßen.

Arthur ist 1989 geboren, dem Jahr, als das Sowjetimperium kollabierte. Sein Vater war Bergmann in Workuta, der Stadt am Ural, die von Zwangsarbeitern erbaut wurde und eines der berüchtigtsten Straflager des Gulag hatte. Arthurs Eltern nutzten die neue Freiheit, emigrierten in die USA und holten ihren Sohn, der sechs Jahre bei den Großeltern blieb, später nach. Er war neun, als er nach Amerika kam, und das sei der Grund, meint er, weshalb er ein reines Amerikanisch spreche, ohne den verräterischen slawischen Akzent, der unvermeidlich ist, wenn man die Fremdsprache später erlernt. Arthur ist Doppelbürger, Russe und Amerikaner, doch nach Workuta, das 160 Kilometer nördlich des Polarkreises liegt, zieht es ihn nicht zurück.

Er hat eben das College beendet und weiß noch nicht recht, was er will. Als Strandwächter am Orchard Beach arbeitet er schon den siebten Sommer. Es ist nur eine Viertelstunde mit dem Rad von Co-op City in der Bronx, wo er wohnt, und der Job ist nicht anstrengend. Acht Stunden dauert die Schicht, er kann ein bisschen dabei lesen. Unlängst hat man neuen Sand aufgeschüttet, weil bei Ebbe das Kliff, wo es jäh ein paar Meter hinuntergeht, gefährlich nahe kam. „Niemand ist hier ertrunken in all den Jahren“, sagt Arthur mit einer Stimme, die sanft ist wie die Sommerbrise. „Hitzschlag, eine Herzattacke, mehr nicht.“

Alle möglichen Sprachen kann Arthur hören von seinem Hochsitz aus; es ist ein kleines Völkergemisch am Strand, anders als weiter oben auf den beiden Picknickwiesen, wo sich die Nationen getrennt voneinander niederlassen wie in der Generalversammlung der UNO. Auf die Debatte in den USA, ob die Gesellschaft der Immigranten nun ein „Schmelztiegel“ oder eine „Salatschüssel“ sei, das heißt die Ethnien sich mischen oder nebeneinander herleben, gibt der Orchard Beach eine sibyllinische Antwort: Im Wasser schwimmen, im Sand herumtollen oder einfach in der Sonne dämmern tut man gemeinsam und ohne Berührungsängste. Beim Essen aber, ob mit Salat oder ohne, will man unter sich bleiben.

Aus der Luft betrachtet, besteht der Orchard Beach aus drei Streifen: Strand, Promenade, Picknickwiesen. Geht man näher, entpuppt er sich als ein Archipel, dessen Bewohner sich je nach Interessen, Vorlieben und Herkunft sammeln und zerstreuen. Man trifft sich auf Soundinseln, hüllt sich in Klangblasen, lindert so das Heimweh, schützt sich vor Unbilden und hält das Verlangen wach.

Da sind die alten Männer aus Kuba, die den schepprigen Tönen aus dem Kassettenrekorder lauschen, die sie nach Havanna bringen. Da ist die Frau im Rollstuhl mit den zwei Männern, die eine Wand aus Lärm um sich gebaut haben. Da ist der Weiße mit dem zerfurchten Gesicht und der Boombox im Arm, der mit Sinatras „Ring-a-Ding-Ding!“ ein Weibchen anzulocken hofft.

Der Orchard Beach ist einmalig, weil man all das machen und genießen, all dem aber auch entgehen kann. Der Archipel hat nicht nur Musikinseln, sondern auch solche für Sportler, für Leser, ja selbst für einen Robinson, der keinerlei Gesellschaft wünscht. Am Nordende des Strandes ragen die Felsen aus dem Wasser, wo die Angler ihre stille Andacht verrichten und nichts zu hören ist als das Sirren der Schnur und ab und an ein Gruß, wenn einer sich neu dazugesellt und Stuhl, Gerätebox und Kühlkasten mit Bier und Würmern in gebührlicher Entfernung platziert von den Kollegen, die er kennt und doch nicht kennt. Hier tönt keine Musik, hier hört man nur das Wasser ans Ufer lappen und dann und wann den leisen Ruf: „Was gebissen?“

Ein Schwarzer in den Zwanzigern, mit blauer Mütze und nacktem Oberkörper, gibt bereitwillig Auskunft über die Fische, die man hier findet, Blaubarsch und Felsenbarsch, Meerbrasse und Flunder. Gefragt nach seinem Namen, sagt er bloß „AJ“, und auf Nachfrage: „Das ist alles!“ Zu viel Neugier ist unerwünscht, man will für sich sein und ist in der Bronx, wo sich wer Ärger einhandelt, der Fragen stellt.

Die Felsen, rundgeschliffen von Gletschern vor einer halben Milliarde Jahren, sind so sanft wie der Tag mit dem blauen Himmel, in dem eine kugelrunde weiße Wolke schwebt wie ein überirdischer Luftballon. Eine Gruppe Frauen hat es sich bequem gemacht, eine hat ihre Brust entblößt, was nicht bemerkenswert wäre, wäre man nicht in Amerika, wo das Terrain der Sünde weit oberhalb der Gürtellinie beginnt.

Vom Nordende des Strandes führt ein Naturlehrpfad in den Wald, wo man Hunter Island und Twin Island erkunden kann. Seit der Aufschüttung für den Strand sind sie zwar keine Inseln mehr, doch die Namen hat man gelassen. Vögel zwitschern, Grillen zirpen, es summt und brummt, und vom Strandleben, nur ein paar hundert Meter entfernt, dringt kein Laut. Ein Reiher steht im Wasser, der Sumpf gluckert, und vereinzelte Männer gucken ziellos interessiert in die Luft und werfen einander kaum merkliche Seitenblicke zu. Irgendwo liegt eine leere Kondompackung, und ein Schild mahnt, das Wildleben nicht zu stören. Singspatzen, ist zu lesen, lernten ihre Lieder voneinander, variierten sie aber so, dass keine zwei Vögel das Gleiche singen. Die vielen Silberpappeln, heißt es weiter, seien zwar hübsch anzusehen, jedoch so karrierebewusst, dass sie alle anderen Pflanzenarten verdrängten. Irgendwie, scheint einem, gibt es auch unter den Strandbesuchern Singspatzen und Silberpappeln, und wohl auch, wie hier, einen Eichenblättrigen Giftsumach, mit dem man besser nicht in Berührung kommt.

Was dem Naturschutz Flora und Fauna, ist dem Kulturschutz das Orchard-Beach- Badehaus mit dem imperialen Säulengang und der palastartigen Terrasse. Erbaut vom Architekten Aymar Embury II., der mit Robert Moses zusammenarbeitete, zählt es in seinem modern-klassischen Stil zu den offiziellen Sehenswürdigkeiten New Yorks. Nun ist es geschlossen, man erwägt eine Renovierung oder einen Neubau, hat aber für beides kein Geld. Der Bau leidet an Betonkrebs, einer Zersetzung des Betons aufgrund der chemischen Reaktion von Alkalien des Zementsteins mit Kieselsäure, die vom Ozean stammt.

Woher auch immer man kommt, was auch immer man tut, man trifft sich beim Kubaner, dem nahen Essensstand. Da gibt es tostones, frittierte Kochbananen, dazu Hühnerbeine, Hamburger und allerlei Fettiges und Gezuckertes, das man mit einem eisgekühlten Bier oder einem süßen Soda hinunterspült. Gesundheitsapostel sind hier so fehl am Platz wie ein Priester in einem Bordell. Orchard Beach liegt jenseits der Horizonts der Insel Manhattan, wo die Foodies, Veganer, Vegetarier und glutenfreien Kohlenhydratekleriker sich plagen mit der Auswahl zwischen zwei Dutzend Kaffeesorten und Zubereitungsarten mit ausländisch klingenden Namen wie Cappuccino, Frappuccino oder Skinny Cinnamon Dolce Latte. Hier heißt es: „Kaffee? Mit Milch und Zucker?“

Während sie fragt, textet die Kassiererin auf ihrem Blackberry, wofür sie bloß ein Auge und einen Finger braucht. Wer Kinder hat und den Überblick verloren, wo sie sind, wirft vor dem Weggehen noch einen Blick auf die dem Kiosk benachbarte eingezäunte Wiese mit der Tafel „Lost Children’s Area“. Da wären sie zu finden, die verlorenen Kinder, sicher wie die Hunde im Zwinger und bereit, wieder an die Leine genommen zu werden. Um erneut, schlendert man an ihnen vorbei, die Hand mit gestrecktem Mittel- und Zeigefinger zur Pistole zu formen: „Bumm!“

Doch eigentlich kommt man an den Orchard Beach, um selbst aufzutischen. Die robusten Grills, um die sich die Familien auf den Picknickwiesen sammeln, sind in großen Abständen im Boden verankert, sodass keine Gefahr droht, einander mit dem Grillspieß zu pieken.

Wer etwas auf sich hält, bringt aber den eigenen Grill mit, mitsamt einem Gefährt, worauf sich die Packungen mit Kartoffelchips, die Fleischwaren, die Maiskolben, die Salate und das Getränkesortiment türmen, dazu Campingstühle und Klapptische, Badetücher und Liegedecken, Sportartikel, Musikanlage und der ganze Rest des Hausrats, ausgenommen der Möbel und sanitären Anlagen. Am Strand will man fern sein von zu Hause, aber es haben wie dort.

Die Familie Catedral kommt jeden Sommer, seit 25 Jahren schon. Claudio ist 50, er stammt aus der Dominikanischen Republik und hat wie seine Frau Maricela eine so dunkle Haut, dass man sie für Schwarze halten könnte. Sie schätzen es, dass es jetzt einen Spielplatz gibt, lieben die Stille und das Ungestörtsein. Sie träfen sich hier nicht mit anderen Leuten, sagt Claudio, sondern blieben für sich mit den drei Buben, die zehn, zwölf und 15 Jahre sind und ihren Übermut im Wasser kühlen, sodass Maricela und Claudio in den Liegestühlen ruhen und plaudern können.

Für sich selbst haben sie Steaks, für die Buben eine Jumbopackung Frankfurter Würstchen, und für Chiquito, das Hündchen, gibt’s Häppchen von beidem. „Es ist ein Chihuahua Größe Nummer drei“, sagt Claudio. Er trägt Kleider auf Maß geschnitten, bessere als seine Besitzer.

Wie die Bronx leidet auch der Orchard Beach unter dem schlechten Ruf, den er einst verdiente. Die grün uniformierte Schwarze von der Park Security ärgert sich darüber so, dass sie einem, erkundigt man sich nach Problemen, bald den Rücken zuwendet. Manchmal müsse sie, sagt sie knapp, nutcrackers beschlagnahmen – ein Getränk, das im Harlem der Prohibition entstanden ist, eine Mischung aus Alkohol und Fruchtsäften und in Plastikflaschen für fünf Dollar angeboten. Das Spirituosenbonbon ist bei Teenagern beliebt und jetzt in der Krise für manche Arbeitslose eine Gelegenheit, Geld zu machen.

In den Nachrichten ist gemeldet worden, der Orchard Beach sei der sicherste Strand aller fünf Bezirke New Yorks, und von der Organisation New Yorkers For Parks hat er Bestnoten bekommen. Sandstrand, Promenade, Toiletten und Brunnen seien tipptopp, hieß es im Bericht, und als Mangel wurde lediglich vermerkt, dass in ein paar Toiletten Handtücher oder Trockner fehlten und WC-Türen nicht abgeschlossen werden könnten.

Die Park Security patrouilliert, schlichtet Streitereien, passt auf, dass keine Glasbehälter mit an den Strand genommen werden und dass niemand im Wasser ist bei Sturmwarnung. Wenn nötig, erinnert sie auch an die Verbote, die überall auf Schildern festgehalten sind: Nicht schwimmen in den mit roten Fähnchen markierten Strandabschnitten, wo keine Strandwächter im Dienst sind, keine Hunde und keine alkoholischen Getränke mit an den Strand nehmen, nicht mit Waren handeln, Abfalltonnen durchstöbern oder Müll deponieren.

Das gilt in allen 13 Sektoren des Strandes; in den Randsektoren ist es außerdem verboten, Radio zu hören. Da kann man sich in ein Buch vertiefen, in einer anderen Welt sein in dieser Welt, die ebenso fern ist von der Alltagswelt.

Am Abend, auf dem Platz vor dem Badehaus, bildet sich eine Runde von Zuschauern um ein Dutzend Männer mit Congas und Rumbarasseln, die singen, tanzen und spielen, während die Frauen um sie herum Hühnchen, Reis und Bohnen bereitstellen. Es sind Kubaner, Puerto Ricaner, Dominikaner, Bewohner der Großen Antillen, die hier im Kleinen versammelt sind und mit ihren afrikanischen Rhythmen einen auf den Kontinent entführen, der so weit weg ist wie der kommende Montag. Die Hitze weicht einer wohligen Wärme, während die letzten Strandbesucher die Sonnenschirme schultern. Im Sand stehen die Lachmöwen, die Mägen voll, die Mienen zufrieden.

mare No. 91

No. 91April / Mai 2012

Von Peter Haffner und Wayne Lawrence

Peter Haffner, Jahrgang 1953, berichtet aus den USA für Das Magazin des Schweizer Tagesanzeigers und andere Publikationen. Er wohnt in der Nähe von San Francisco unweit der Pazifikküste. Nun hat er sich an den Orchard Beach gewagt, in der verrufenen Bronx, und fragt sich: Was ist aus dem Vorhof der Hölle geworden?

Wayne Lawrence, Jahrgang 1974, ist auf der Karibikinsel Saint Kitts geboren. Er lebt als Fotograf in Brooklyn. Die Strandbilder vom Orchard Beach sind im Rahmen eines Langzeitprojekts entstanden. Lawrence wird von der Agentur Institute vertreten.

Vor zehn Jahren, in No. 33, näherte sich mare schon einmal diesem entlegenen Teil New Yorks: in einer Reportage über Hart Island, wo, nur einige hundert Meter vom Orchard Beach entfernt, New York seine unbekannten Toten bestattet.

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Vita Peter Haffner, Jahrgang 1953, berichtet aus den USA für Das Magazin des Schweizer Tagesanzeigers und andere Publikationen. Er wohnt in der Nähe von San Francisco unweit der Pazifikküste. Nun hat er sich an den Orchard Beach gewagt, in der verrufenen Bronx, und fragt sich: Was ist aus dem Vorhof der Hölle geworden?

Wayne Lawrence, Jahrgang 1974, ist auf der Karibikinsel Saint Kitts geboren. Er lebt als Fotograf in Brooklyn. Die Strandbilder vom Orchard Beach sind im Rahmen eines Langzeitprojekts entstanden. Lawrence wird von der Agentur Institute vertreten.

Vor zehn Jahren, in No. 33, näherte sich mare schon einmal diesem entlegenen Teil New Yorks: in einer Reportage über Hart Island, wo, nur einige hundert Meter vom Orchard Beach entfernt, New York seine unbekannten Toten bestattet.
Person Von Peter Haffner und Wayne Lawrence
Vita Peter Haffner, Jahrgang 1953, berichtet aus den USA für Das Magazin des Schweizer Tagesanzeigers und andere Publikationen. Er wohnt in der Nähe von San Francisco unweit der Pazifikküste. Nun hat er sich an den Orchard Beach gewagt, in der verrufenen Bronx, und fragt sich: Was ist aus dem Vorhof der Hölle geworden?

Wayne Lawrence, Jahrgang 1974, ist auf der Karibikinsel Saint Kitts geboren. Er lebt als Fotograf in Brooklyn. Die Strandbilder vom Orchard Beach sind im Rahmen eines Langzeitprojekts entstanden. Lawrence wird von der Agentur Institute vertreten.

Vor zehn Jahren, in No. 33, näherte sich mare schon einmal diesem entlegenen Teil New Yorks: in einer Reportage über Hart Island, wo, nur einige hundert Meter vom Orchard Beach entfernt, New York seine unbekannten Toten bestattet.
Person Von Peter Haffner und Wayne Lawrence