Der Stolz der Heringsmädchen

Gut 100 Jahre lang, von der Mitte des 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, waren Tausende junger Frauen wichtige Stützen der britischen Fischindustrie. Zugleich halfen sie damit der Emanzipation der Frauen

Sie waren jung, und sie hatten schnelle Hände: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er-Jahre strömten Saison für Saison Tausende Arbeiterinnen aus allen Teilen Großbritanniens an die Küsten des Inselreichs, zum Heringe-Ausweiden. Von Fisch verstanden sie nicht viel, aber es war ihre Chance, weg­zukommen aus der Enge ihrer Heimatdörfer. So entstanden einzigartige Gemeinschaften emanzipierter Frauen

Rita war 15 Jahre alt und verkaufte Fish and Chips in einem Imbiss, als eine Frau aus dem Dorf sie fragte, ob sie mitkommen wolle auf die Isle of Man. Sie gehe im Sommer mit ihrer Tochter dorthin zum Heringeausweiden. Junge Frauen mit schnellen Händen würden dort gesucht. Es war das Jahr 1947, und Rita hatte Bellshill, dieses Dorf im Landesinneren Schottlands, in dem sie aufgewachsen war und jetzt arbeitete, nie verlassen.
 

Von Fisch habe sie nicht viel verstanden, sagt sie heute, aber es sei eine Chance gewesen, wegzukommen. Weg aus der Enge des Dorfs, weg von der scheinbar vorgezeichneten Zukunft, die eine junge Frau im Schottland der 1940er-Jahre hatte. Also stieg sie einige Wochen später mit der Frau, Bella Doherty, und deren Tochter, Isa Doherty, in den Zug. Sie erzählte ihren Eltern nichts davon, aus Angst, sie würden sie aufhalten.


Auf der Isle of Man, zwischen England und Irland gelegen, war der Hafen voller Frauen und Mädchen. So etwas hatte sie noch nie gesehen, sagt Rita. Es waren Hunderte, vielleicht Tausende. Rita hörte Akzente aus dem Norden und Osten, aus Irland und England und solche, die fast skandinavisch klangen und von denen sie erfuhr, dass sie auf den Shetland­inseln gesprochen wurden, weit oben in der Nordsee.


Sie arbeiteten im Team. Wenn am frühen ­Morgen die Boote in den Hafen kamen und die Fischer die großen Körbe mit Heringen heranschleppten, dann waren es Bella und Isa, die die Fische ausweide­ten. Ein Schnitt vom Kopf bis zur Schwanzflosse, und wenn sie sich geschickt anstellten, kamen die Eingeweide dann schon alle mit der Klinge des Messers heraus. Ritas Aufgabe war es, die Fische mit Salz einzureiben und in ein Holzfass zu stapeln, dessen Boden sie – die größte der dreien – gerade so erreichte. 

Sie erinnert sich, dass sie sich ungeschickt anstellte. Die Fische waren glitschig, und in den Wunden, die sie bald an den Händen hatte, stach das Salz. Den ersten Anpfiff, so erinnert sie sich, erhielt sie nach kurzer Zeit, weil sie die Fische mit dem Bauch nach oben ins Fass legte und nicht mit dem Bauch nach unten, was Platz spart. Eine gute Packerin schaffte es, 20 Reihen Heringe in ein großes Fass zu legen, also zwischen 900 und 1200 Fische. Nach etwa zehn Tagen, wenn das Salz den Heringen das Wasser entzogen und sich so Platz im Fass ergeben hatte, öffnete Rita es erneut und setzte, im besten Fall, weitere vier Reihen Fische obendrauf. Eine schnelle Packerin schaffte ein Fass in zehn Minuten.


So verging Tag für Tag dieses Sommers 1947, Stunde für Stunde, im Regen, in der Sonne, im Wind, Rita krempelte wie alle Frauen hier ihre Ärmel hoch bis zum Ellenbogen, ihre Unterarme waren beschmutzt mit Fischeingeweiden, Schuppen und Blut. Sie aßen Reste und dünne Suppen, oft gab es Hering schon zum Frühstück. Und weil es nicht in jeder der Hütten, in denen die Frauen wohnten, fließendes Wasser gab und manchmal die Schlange zu lang war, schafften sie es nicht jeden Abend, sich zu waschen.

Rita McNab ist heute 88 Jahre alt, eine hagere Frau voller Witz. Sie sitzt in einem von zwei Sesseln, der andere ist leer. Ihr Mann Jim ist vor Kurzem gestorben. Die Sessel sind so ausgerichtet, dass sie auf die danebenliegende Wand schaut, nur dass dort keine Wand ist, sondern ein riesiges, boden­tiefes Fenster und dahinter das Meer. Rita McNab, das Mädchen aus dem Landesinneren, ist zu einer Frau der See geworden – damals im Sommer 1947 hat es angefangen. Wenn McNab über diese Zeit spricht, dann hellen sich ihre Züge auf, dann strahlen ihre ­Augen. Ja, sagt sie, die Arbeit sei unglaublich hart gewesen, aber sie habe noch keines der Heringsmädchen früh sterben sehen. Sie seien jung gewesen, da habe man das abgekonnt, und wenn sie an diese Zeit denke, dann denke sie nicht an Gestank und Müdigkeit, sondern an Freiheit und Unabhängigkeit. 


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mare No. 150

mare No. 150Februar / März 2022

Von Bastian Berbner und Craig Easton

Bastian Berbner, geboren 1985, Journalist in Hamburg, aß auf seiner Recherchereise fast jeden Tag Fisch – sogar im angeblich nördlichsten Fish-and-Chips-Imbiss Großbritanniens auf den Shetlands.

Craig Easton, Jahrgang 1967, Fotograf in Liverpool, mochte den ­Humor der ehemaligen „gutters“, die er für diese Geschichte traf. „Ich habe selten bei der Arbeit so viel gelacht.“

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Vita

Bastian Berbner, geboren 1985, Journalist in Hamburg, aß auf seiner Recherchereise fast jeden Tag Fisch – sogar im angeblich nördlichsten Fish-and-Chips-Imbiss Großbritanniens auf den Shetlands.

Craig Easton, Jahrgang 1967, Fotograf in Liverpool, mochte den ­Humor der ehemaligen „gutters“, die er für diese Geschichte traf. „Ich habe selten bei der Arbeit so viel gelacht.“

Person Von Bastian Berbner und Craig Easton
Vita

Bastian Berbner, geboren 1985, Journalist in Hamburg, aß auf seiner Recherchereise fast jeden Tag Fisch – sogar im angeblich nördlichsten Fish-and-Chips-Imbiss Großbritanniens auf den Shetlands.

Craig Easton, Jahrgang 1967, Fotograf in Liverpool, mochte den ­Humor der ehemaligen „gutters“, die er für diese Geschichte traf. „Ich habe selten bei der Arbeit so viel gelacht.“

Person Von Bastian Berbner und Craig Easton