Der Stoff, aus dem die Träume sind

Sage niemand, das Hawaii-Hemd sei ein einfaches Kleidungsstück. Es ist vielmehr ein kunterbuntes Statement, das auf allen Bedeutungsebenen interpretiert werden muss

Der Fall ist einmalig: Ein Kleidungsstück erfindet den dazugehörigen Ort. Ohne das Hawaii-Hemd gäbe es die Inselgruppe nämlich gar nicht. Abgelegen im Pazifik, wäre Hawaii eine obskure Gegend, die mal von Japan schwer angegriffen wurde und ansonsten bloß Wellen für verrückte Jungs bietet plus devote Ureinwohnerinnen, die immerzu „Aloha!“ rufen. Hawaii wäre – immer vorausgesetzt, es hätte das Hawaii-Hemd nie gegeben – zu weit weg, um dorthin zu reisen, von der Vulkangefahr gar nicht zu reden. Hawaii? Nein, uninteressant und uncool, eine Gegend, von der gesungen wird, dass es dort kein Bier gibt. Irgendwas wie die Molukken oder die Azoren. Von dort kommen Pfeffersäcke und Wetterhochs, das sind doch keine mythischen Orte!

Das Hawaii-Hemd hat alles verändert. Die USA nahmen 1959 die Inseln als 50. Staat auf, nachdem sogar die Präsidenten Truman und Eisenhower sich in „Aloha-Shirts“, wie das Hemd eigentlich heißt, hatten fotografieren lassen. Das Hawaii-Hemd beeinflusst sogar die deutsche Gegenwart: Die Fernsehsendung „Extreme Activity“ mit dem Moderator Jürgen von der Lippe sähe ohne das Hemd anders aus, und in deutschen Fußgängerzonen gäbe es weit weniger dickbäuchige Farbtupfer. Sage also niemand, das Hawaii-Hemd sei ein unschuldiges Bekleidungsteil.

Die Bedeutungsvielfalt ist beinahe so groß wie die Motivbandbreite. Es war Touristenmitbringsel, Hipster-Accessoire, Kriegsteilnehmer, Vorbote der Popkultur, dann Unterschichtenkluft und Kitsch par excellence, Ramschteil und äußerst teures Objekt, für das Sammler mehrere tausend Dollar bezahlen. Immerzu ging es mit dem Ansehen auf und ab. Momentan ist die ästhetische Wertschätzung des Hawaii-Hemdes in etwa auf einer Stufe mit Mahmud Ahmadinedschad oder Britney Spears – man möchte damit nicht gesehen werden.

Das Hawaii-Hemd kündet von genauer sozialer Zugehörigkeit und steht in einer Gesellschaft mit Herrensandalen, Rüschenblusen, falsch gewählten Jogginganzügen. Es wird verachtet. Geschmäht. Verlacht. Der komische und ziemlich erfolgreiche Fernsehmoderator Jürgen von der Lippe ist berühmt für seine Hawaii-Hemden-Vorliebe. Auf Bildschirm und Bühne erscheint er mit den fiesesten Farbkombinationen. Aber von der Lippe sagt: Nie würde er ein Hawaii-Hemd privat tragen. Er doch nicht. Reine Dienstkleidung. Immerhin: Als Verkäufer von easyness, Freizeitwillen und Dauerspaßbereitschaft trifft die Verkleidung die Kundschaft ins Herz. „Es gibt kein Bier auf Hawaii, / drum bleib ich hier.“

Die Grundbedingungen des Aloha-Shirts sind einfach. Der Schnitt ist gerade, keinesfalls tailliert. Auch der Saum läuft gerade, das Hemd soll ja über der Hose getragen werden. Die Hemdtaschen dürfen das Muster nicht unterbrechen, Knöpfe sind aus Kokosnussschale gefertigt. Bei den Motiven gibt es natürlich keinerlei Beschränkungen, je bunter, je auffälliger, je besser. Anything goes, Zurückhaltung ist anderswo. Die Shirts müssen schreien.

Die große Zeit des Hemdes sind die dreißiger bis fünfziger Jahre. Begonnen hat das Ganze als Marketinginstrument. Hawaii musste bekannt werden, damals, Ende der Zwanziger, als das „Royal Hawaiian Hotel“ gebaut wurde, aber jährlich nur wenige Touristen mit Schiffen auf den Inseln anlandeten. Das Hawaii-Hemd wurde für den Export erfunden, und der Bekleidungsbotschafter erfüllte seine Dienste besser als jedes andere Andenken: eine Postkarte, die der Absender persönlich nach Hause trägt.

Es gibt zahlreiche Vorläufer. Unter den Einwanderern aus Asien im 19. Jahrhundert waren viele Schneider. Sie fertigten karierte Drillichhemden für die Landarbeiter und später vorwiegend weiße Kleidung aus Leinen oder Segeltuch für die anderen Hawaiianer. Die Ureinwohner hatten – Nacktheit war schockierend – von den christlichen Missionaren Wickelstoffe verordnet bekommen, die zum Teil bedruckt waren. Die Motive dieser handbedruckten „Tapas“ kamen aus Tahiti. Später wurden sogenannte Pareos aus Baumwolle hergestellt, deren einfarbige Blütendrucke auf den Hemden wieder auftauchten.

Anfang der dreißiger Jahre muss das erste Aloha-Shirt geschneidert worden sein. Der genaue Ursprung liegt im Dunkeln. Viele Japaner und Chinesen hatten sich aus der Heimat bedruckte Stoffe senden lassen und zu Hemden verarbeitet. Der chinesische Schneider Ellery J. Chun entwarf 1932 oder 1933 kurzärmelige Hemden aus buntem Kimonostoff und verkaufte sie als „Hawaii-Hemden“ für 1,95 Dollar. Das Geschäft ging sehr gut, 1937 ließ Chun sich den Begriff „Aloha Shirt“ auf 20 Jahre schützen. Aber er war nicht der Einzige.


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mare No. 64

No. 64Oktober / November 2007

Von Holger Kreitling

Holger Kreitling, Jahrgang 1964, besitzt mehrere ziemlich bunte Hemden, aber keines aus Hawaii. Sein Sohn, 8, hat gerade ein orangefarbenes Aloha-Shirt mit weißen Hibiskusblüten bekommen. Auf dem Etikett steht geschrieben „Made in Bangladesh“.

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Vita Holger Kreitling, Jahrgang 1964, besitzt mehrere ziemlich bunte Hemden, aber keines aus Hawaii. Sein Sohn, 8, hat gerade ein orangefarbenes Aloha-Shirt mit weißen Hibiskusblüten bekommen. Auf dem Etikett steht geschrieben „Made in Bangladesh“.
Person Von Holger Kreitling
Vita Holger Kreitling, Jahrgang 1964, besitzt mehrere ziemlich bunte Hemden, aber keines aus Hawaii. Sein Sohn, 8, hat gerade ein orangefarbenes Aloha-Shirt mit weißen Hibiskusblüten bekommen. Auf dem Etikett steht geschrieben „Made in Bangladesh“.
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