Der Stoff, aus dem die Strände sind

Woher kommt der Sand am Strand?

Sieben Beaufort, in Böen bis neun. Es ist Ende März, ein Südweststurm hat zum Angriff auf die Ostfriesische Küste geblasen. Vor dem Strand von Langeoog türmt sich die Welle zu einer dunkelgrünen Tunnelwand, wölbt ein opalenes Dach über sich, reißt auf, bricht donnernd zu Boden und läuft den Strand hinauf. Erschöpfung, kurzes Innehalten, Schaumblasen platzen, und zurück schießt das Wasser. Die Wucht der Brecher wächst stündlich, das Wasserdach der Brandung wird trüber und dunkler. In das dumpfe Trommeln der Wogen mischt sich deutlicher der „Besen“ des knirschenden Rückstroms. Plan wie ein Spiegel und schief ist die Bahn, die er hinterlässt, von den unzähligen Brechern gestampft und gewaschen. Die nächste Welle, dasselbe Bild.

Doch nur scheinbar, denn die Welle bringt mehr als nur Wasser. Brecher für Brecher wischt sie eine neue Lage Sand über den Strand und nimmt auch wieder Sand mit auf den Weg. „Du trittst nicht zweimal auf denselben Strand“ – so ließe sich Heraklits Sinnspruch über den Fluss abwandeln. Alles fließt: An Sturmtagen werden auf einem Kilometer stündlich Hunderte von Tonnen Sand den Strand hinauf- und hinabgeschoben.

Die Bilanz dieses Sturms wird negativ ausfallen: Denn während der Winterstürme specken die meisten Meeresstrände ab. Vor dem Strand bilden sich zum Ausgleich entsprechende Polster: Hier eine neue Sandbank, dort eine Unterwasserdüne, anderswo versandet ein Priel.

An der brandungsreichen Gold Coast am östlichsten Punkt Australiens wurden im Winterhalbjahr bei langjährigen Tests auf einem Strandkilometer 1,6 Millionen Kubikmeter Sand durch Seegang und Strömung abgeräumt. Ein Vierteljahr lang hätte ein Seebagger zu tun, um diese Massen wieder auf den Strand zu schaffen.

Allerdings gäbe es dazu keinen Anlass. Im Sommer schwemmt das Meer den Sand zurück – dank der Dynamik der Wellen. Denn eine Meereswelle wogt auf einer Staffel von Wasserwalzen. Sie reichen bis in eine Tiefe, die der halben Wellenlänge entspricht. Vor dem Strand schließen sie sich zu einer einzigen zusammen. Wie ein sprudelnder Teppichroller rotiert diese über den Boden und reißt Sand mit. Im windärmeren Sommer strandet die Welle vorwiegend weich, streicht ungebrochen den Strand hinauf und bringt mehr Sand, als sie wieder mitnehmen kann. Schließlich besitzt sie dafür auf dem Hinweg mehr Energie als auf dem Rückweg, wenn sie ihren Schwung am Hang des Strandes eingebüßt hat. Während der Brandungen des Winters jedoch setzt sie die meiste Transportenergie bei ihren Einsturz frei.

Der Walzendrall schleift dabei den Strandsand nach hinten unter sich. So raubt der Brecher mehr, als er abwirft. Extreme Wetterschwankungen der letzten Jahrzehnte haben die Sandbalance ungünstig verändert. An den Ferienstränden der Nordsee versucht man, den Schwund durch künstliche Sandaufspülungen zu kompensieren. Doch die halten oft nur bis zum nächsten großen Sturm vor. Das Meer bereitet sich sein Bett nach eigenem Muster.

Je höher die Energie der Wellen ist, um so mehr Sand können sie „aufscheuchen“. Doch wohin es ihn genau treibt, das hängt vor allem von ihrer Marschrichtung ab. Nur im Idealfall liegt sie rechtwinklig zur Küste. In der Regel nähern sich die Wellen schräg. Bis ihre „Walzen“ Bodenkontakt bekommen und sie peu à peu so herumreißen, daß sie mit ihren Kämmen fast parallel zum Strand landen – ein Vorgang, den man Refraktion nennt. Dieser Schwenk verursacht eine Strömung vor der Brandung entlang des Strandes, die vieles von dem, was die landende Welle aufwühlt, fortspült. Gemeinsam mit größeren Kontinental- und Tidenströmen und wechselnd mit den Winden, wirkt sie ununterbrochen an der flüchtigen, fließenden Grenze zwischen Land und Meer: Buchten werden durch Nehrungen geschlossen, Inseln verschoben, langsam reift irgendwo eine Lagune heran. Die Ostfriesischen Düneninseln, bis in tiefste Schichten selber reine Sandprodukte, verändern laufend ihr Profil. Das sichelförmige Langeoog hat nach dem Weststurm an seinem östlichen (Lee-) Ende einen Zipfel angesetzt.

Nur an schnurgeraden Küsten verteilt sich die Energie der Wellen gleichmäßig auf den Strand, und nur dort wird der Sand entsprechend gleichmäßig auf- und abgetragen. Ein einziger harter Fels, den das Meer zu einer Landzunge herausgewaschen hat, bringt alles durcheinander. Wie ein Magnet konzentriert er die einfallenden Wogen auf sich, weil sich Wellen um Körper, die ihnen im Weg sind, herumbeugen – Diffraktion genannt. Mit ihrer Energie verschärft sich ihr Schliff: Das Strandprofil wird unmittelbar hinter dem Vorsprung stark und mit wachsendem Abstand schwächer ausgehöhlt (siehe Grafik auf Seite 78). So erklärt sich die Hakenform vieler sandiger Buchten.

Variantenreiche Waschbrettmuster, die sich bis zu zehn Zentimeter in die Oberfläche des strandnahen Meeresbodens prägen, verraten, woher die Strömungen kommen und wie schnell sie sind. Kleinere Rippel entstehen in nur knöcheltiefem Wasser schon bei einem Stromtempo von gut einem halben Stundenkilometer. Von Kamm zu Kamm ist es höchstens ein halber Meter. Bei doppeltem Tempo und tieferem Wasser entstehen Dünen mit geraden Kämmen im Abstand von über einem Meter. Ist dieser Kamm gebogen, weiß man, dass das Wasser hier schneller strömt als anderthalb Stundenkilometer. Denn überall, wo unterschiedlich dichte Schichten aneinander vorbeireiben, bilden sich Wellen. Da die feinen Sandkörner beweglicher sind als der Wasserstrom, sind auch sie es, die sich „krummlegen“.

Ohne Schutzbrille oder Windschleier wird sich an diesem launischen Märztag kein Langeooger über die Dünen wagen. Der obere Strandrand ist von der warmen Luft und der Sonne angetrocknet. Und so jagen die Sturmböen Spiralen aus Sandwolken die Dünentäler hinauf. Strandhaferbüschel peitschen den Boden. Wie die Wellen schippt auch der Wind sein gerüttelt Maß Sand. Schon bei vier Beaufort hat er seine Arbeit aufgenommen, bei fünf Windstärken transportierte er auf einem Meter Breite stündlich rund 75 Kilogramm und bei Windstärke 6 schon das Doppelte.

Das meiste verschleppt er als Bodenfracht, denn Sand erhebt sich nur in die Luft, wenn seine Körner kleiner als 0,08 Millimeter sind. Die größeren Körner schieben sich nur rollend, gleitend und hüpfend voran. Bis zur nächsten Düne, dort geht’s nur weiter, wenn der Luvhang, die dem Wind zugewandte Seite der Düne, nicht steiler ist als 15 Grad. Ab dieser Schräge prallen die groben Sandkörner ab. Kommt der Sand über den Berg, lässt er sich im Windschatten, auf der Leeseite, nieder; hat dieser jedoch den Winkel von 34 Grad überschritten, rutscht er weg. Dünen „ernähren“ sich also vom Sand, indem sie ihn aufnehmen. Da sie nur Mindestmengen über den Berg lassen, bremsen sie den Sandtransport und sind so der beste Küstenschutz. Wegen der Luvbremse überwiegt in ihnen der feine Sand.

Nicht immer reicht der Sandnachschub für eine zusammenhängende Dünenlandschaft, dann entstehen wanderlustige Sicheldünen, die Barchane. Rippel und Dünen sind Strömungsgebilde. Sie entstehen, wenn Sand von Wasser oder vom Wind gerieben wird. Ihre Formen und Wellenlängen verdanken sie ähnlichen Gesetzen.

Aneinandergereiht würden die Strände unserer Meere mit insgesamt 170000 Kilometer Länge die Erde gut viermal umrunden. Wo große Gezeitenunterschiede herrschen, sind die Strände flach und ausgedehnt, bei kleinen bilden sie nur einen schmalen Saum. Strände können sich überall bilden, wo das Meerwasser genügend bewegt wird und der Meeresgrund, wie etwa an steilen Felsküsten, nicht zu stark abfällt. Vorausgesetzt, der Sandvorrat reicht: Wird nicht vor Ort gerade ein älterer Sandstein aufgearbeitet, stammt der Sand meist aus einem benachbarten Flussdelta oder vom Schelf, dem unterseeischen Kontinentalsockel, und wird mit einer küstenparallelen Strömung und den Wellen herangetragen. An Felsinseln bilden sich Sandstrände am ehesten in den Deltas von Flüssen und Bächen, aber auch in Buchten hinter stark umspülten Vorsprüngen, vor denen der Meeresgrund sanft absteigt. Unter erodierenden Berghängen wird der Steinschlag zu Kieselstränden zermahlen.


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mare No. 8

No. 8Juni / Juli 1998

Von Uwe Wandrey

Uwe Wandrey ist gelernter Schiffsingenieur und lebt heute als Buchautor und Reisejournalist in Hamburg und auf der griechischen Insel Paros. In den achtziger Jahren begründete er die Kinderbuchreihe Rotfuchs im Rowohlt Taschenbuchverlag. In mare No. 2 veröffentlichte er einen Essay unter dem Titel „Menschen, Meere, Metamorphosen“, in mare No. 3 einen Artikel über die Entstehung der Wellen

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Vita Uwe Wandrey ist gelernter Schiffsingenieur und lebt heute als Buchautor und Reisejournalist in Hamburg und auf der griechischen Insel Paros. In den achtziger Jahren begründete er die Kinderbuchreihe Rotfuchs im Rowohlt Taschenbuchverlag. In mare No. 2 veröffentlichte er einen Essay unter dem Titel „Menschen, Meere, Metamorphosen“, in mare No. 3 einen Artikel über die Entstehung der Wellen
Person Von Uwe Wandrey
Vita Uwe Wandrey ist gelernter Schiffsingenieur und lebt heute als Buchautor und Reisejournalist in Hamburg und auf der griechischen Insel Paros. In den achtziger Jahren begründete er die Kinderbuchreihe Rotfuchs im Rowohlt Taschenbuchverlag. In mare No. 2 veröffentlichte er einen Essay unter dem Titel „Menschen, Meere, Metamorphosen“, in mare No. 3 einen Artikel über die Entstehung der Wellen
Person Von Uwe Wandrey