Der Sog

Eine Britin bekommt Strandverbot, weil sie angeblich 36 Mal versucht hat, ins Wasser zu gehen. Erklärungsversuche einer Frau, die sich dem Meer nicht entziehen kann

Man hat ihr das Meer verboten. Sie konnte es sogar sehen, durch das Fenster des Gerichtsgebäudes, als man es ihr verbot. Sie musste nur den Kopf nach rechts drehen. Das Meer war ruhig an diesem Tag.

Seit dem 9. Januar 2006 durchziehen unsichtbare Linien Amys Stadt, Grenzen, die andere überschreiten, ohne es zu merken. Wenn Amy die Terrace Road nimmt zum Meer und nach rechts abbiegt, darf sie ein kurzes Stück auf der Uferpromenade gehen, darf den Pavillon passieren, darf den ersten, den zweiten Fahnenmast hinter sich lassen. Am letzten Mast vor der Grenze ist ein Schild angebracht, „Keine Hunde am Strand“ steht darauf, dann kommt die Stelle, wo Amy die Straßenseite wechseln muss, nämlich dort, wo das weiße Geländer beginnt, gegenüber vom blau gestrichenen „Marine Hotel“. Ab hier ist ihr das Betreten der Promenade untersagt. Wohl hat man ihr erlaubt, die Uferstraße selbst als auch den gegenüberliegenden Bürgersteig zu benutzen, allerdings nur bis zur Kreuzung hinter dem Gerichtsgebäude, markiert durch ein Sackgassenschild und einen Briefkasten. Dahinter, am Ende der Straße, mitten in der verbotenen Zone, liegt der kahle Berg, der die Bucht einrahmt, und jener Steinwall, der ins Meer ragt. Er ist einer von zwei Orten, die Amy auserwählt hat, zum Nachdenken über das Leben und zum Sterben.

Weil der britische Staat seine Bürgerin vor sich selbst und seine Beamten vor der Bürgerin schützen will, hat er No-go-Areas für eine einzelne Frau in Wales verhängt. Die Promenade links der Terrace Road: verboten, die Pier: verboten, die Uferstraße jenseits der Pier: verboten, der Hafen: verboten, der Landungssteg: verboten, der Strand: verboten, das Meer: verboten. Sollte Amy die gerichtlich verfügte Weisung missachten, drohen ihr bis zu fünf Jahre Haft, eine Geldstrafe oder beides. Sie habe, heißt es im Gerichtsbeschluss, sich in einer Weise verhalten, die einen vernünftigen Zuschauer zu der Annahme verleiten musste, dass sie gerade dabei war, sich selbst zu schädigen oder im Meer das Leben zu nehmen, und zwar wiederholt. Das wiederum, befand die Justiz, sei asozial. Für Amy gilt deshalb eine Anti-Social Behaviour Order, kurz: ASBO, gemacht für Leute, die andere belästigen, bedrohen oder schikanieren, sie in Bedrängnis oder in Notlage bringen. Manchmal reicht es allerdings schon, Tauben zu füttern oder laute Musik zu hören, um in Großbritannien eine ASBO zu bekommen. Oder verzweifelt zu sein.

Früher war Amy eine erfolgreiche Golfspielerin, sie gab Golfunterricht in Amerika, nahm an Turnieren teil, sie war ein vielversprechendes Talent. Außerdem arbeitete sie ehrenamtlich als Rettungssanitäterin. Jetzt kennen die Leute in ihrer Stadt sie nur als Amy mit den Krücken, die Frau mit den Selbstmordversuchen. Dazwischen liegen über zehn Jahre Krankengeschichte, die von der Suche nach einer Diagnose, von Besuchen bei Spezialisten und sechs Operationen handelt, vier am Rücken, zwei an der Hüfte. Alles hatte auf einem Golfplatz im Jahr 1996 begonnen, als Amy plötzlich einen dumpfen Schmerz spürte. Die Ärzte, die sie in den nächsten Jahren konsultierte, sprachen mal von einer Fraktur in der Lendenwirbelsäule, mal von Arthritis, später entdeckte man, dass eine der eingesetzten Schrauben gebrochen war, und stellte einen Bandscheibenschaden fest. Am Ende hatte sie sogar ein künstliches Hüftgelenk. Doch der Schmerz blieb. Er bestimme ihren Tag, sagt Amy. Er wird mal stärker, mal schwächer, nie aber verschwindet er. Hüfte, Knie, Unterarm, Ellbogen, Rücken, alles tut weh, manchmal meldet sich auch der Nacken, dazu das taube Gefühl im Fuß, die Empfindungslosigkeit in den Händen. „Wenn ich ein Pferd wäre“, sagt Amy, „würden sie mich erschießen und Hundefutter aus mir machen.“

Jeden Tag nimmt sie knapp 30 Tabletten, Antidepressiva, Schmerz- und Schlafmittel, allein acht davon bekämpfen die Nebenwirkungen der anderen Pillen. Ihre tägliche Dosis muss sie in der Apotheke abholen, weil der Arzt ihr nicht traut. Der Schmerz tötet meine Seele. Ich will doch nicht sterben. Wenn ich 150 Jahre alt werden könnte ohne Schmerzen, ich würde es wollen. Aber der Schmerz ist zum Mittelpunkt meines Lebens geworden, ich habe keine Kontrolle über den Schmerz. Es ist wie eine Invasion.

Nur wenn sie im Wasser ist, lässt der Schmerz nach. Sofort. Wasser ist ihre Medizin. Erst hielt die Scham über ihren schweren Körper sie vom Hallenbad fern, doch als sie die überwunden hatte, paddelte sie nicht, sie pflügte durchs Wasser, manchmal dreimal die Woche, trotz ihrer Beschwerden. Die zurückgelegte Distanz notierte sie in einem Pass. Die letzte Operation im Januar zwang Amy zur Pause, aber sie will weitermachen, sobald es geht. Ihr Ziel: so weit zu schwimmen wie bei einer Durchquerung des Ärmelkanals.


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mare No. 62

No. 62Juni / Juli 2007

Von Sandra Schulz

Sandra Schulz, Jahrgang 1975, mare-Redakteurin für Politik, fuhr fünf Tage nach Wales und redete mit Amy D. Sie stellte Schulz sowohl die Polizeiakten als auch die Briefe von Rechtsanwälten und Psychiatern zur Verfügung.

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Vita Sandra Schulz, Jahrgang 1975, mare-Redakteurin für Politik, fuhr fünf Tage nach Wales und redete mit Amy D. Sie stellte Schulz sowohl die Polizeiakten als auch die Briefe von Rechtsanwälten und Psychiatern zur Verfügung.
Person Von Sandra Schulz
Vita Sandra Schulz, Jahrgang 1975, mare-Redakteurin für Politik, fuhr fünf Tage nach Wales und redete mit Amy D. Sie stellte Schulz sowohl die Polizeiakten als auch die Briefe von Rechtsanwälten und Psychiatern zur Verfügung.
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