Der schwimmende Lord

Der Dichter Byron, an Land durch eine Behinderung gebremst, lebte seine Abenteuerlust beim Marathonschwimmen aus

Thou glorious mirror, where the Almighty’s form
Glasses itself in tempest; in all time, –
Calm or convulsed, in breeze or gale or storm,
Icing the pole, or in the torrid clime
Dark-heaving – boundless, endless, and sublime,
The image of eternity, the throne
Of the Invisible; even from out thy slime
The monsters of the deep are made; each zone
Obeys thee; thou goest forth, dread, fathomless,
Alone.

Gewaltiger Spiegel, in dessen Glas der Allmächtige
Sich selbst im Sturme beschaut; in allem, Er, für immer –
Glatt oder brandend, Brise, Orkan, gleichviel,
Am eisigen Pol, unter sengender Sonne
Dunkel-gewölbt – grenzenlos, ewig, sublim:
Bildnis des Dauernden, Thron
Des unsichtbaren Gottes; selbst die Monstren der Tiefe
Entspringen deinem Schleim; Oben und Unten
Huldigen dir; du aber bestehst, gefürchtet, abgründig,
Allein.

George Gordon Noel Lord Byron: Das sechsfache O im Namen des verfemten, nach seiner Scheidung aus England vertriebenen Romantikers dröhnte den Sittenwächtern des 19. Jahrhunderts wie der Schall einer Sturmglocke in den Ohren. Im Vergleich zu seinem Lebenswandel wirken die Skandale in den Königshäusern unserer Tage wie ein Remake mit Akteuren aus der B-Kategorie. Auf dem Sterbebett soll Byron, der den offenen Ozean mehr noch als die Frauen liebte, gesagt haben: „Bis auf den heutigen Tag war mein Leben wie ein sturmgepeitschtes Meer.“

Schwindelerregendes Schuldenmachen trotz gewaltigen Vermögens, notorische Neigung zum Verführen minderjähriger sowie verheirateter Frauen – ewig auf der (vergeblichen) Suche nach der „ungefährlichen Mischung aus sexualisiertem Kind und nährender Mutter“, wie seine Biografin Benita Eisler schreibt –, stets neu aufflammender Hang zu Päderastie und Paranoia, Inzest mit der Halbschwester Augusta, Alkoholismus, chronisches Nägelkauen: all das geht auf sein Konto.

Der 1788 geborene Byron war aber nicht nur der berühmteste Dichter, sondern auch der prominenteste und mutigste Schwimmer Europas. Zudem galt er unter Zeitgenossen als ausnehmend schöner Mann, dessen Leben ein einziger Auftritt war.

Als ihn 1812 eine englische Reisegruppe in Sankt Peter in Rom erspähte, befahl eine Mutter ihrer Tochter, die Augen zu senken: „Sieh ihn nicht an; ihn anzusehen ist gefährlich.“ Wonnig berichtet er aus dem „Meeres-Sodom“ Venedig über seine sexuellen Erfolge, bastelt eifrig am Image des sittenlosen Ungeheuers, damit im spießigen England gehörig die Teetassen klappern. In einem Brief an den Freund und Reisegefährten Hobhouse heißt es 1817: „Im Hinblick auf … den oben erwähnten Wildfang – vergiss nicht, dass es keine liaison ist, nur puff-puff und Hin und Her – & prima Ficken.“

Der die unschicklichen Worte ausschrieb und wüste Dinge trieb, das war nicht irgendwer, kein aus dem Tritt geratener Kleinbürger, sondern Peer von England, Mitglied des House of Lords (in dem er sozialpolitisch brisante Reden gehalten hatte).

Seine Extravaganzen waren keine Privatangelegenheit oder tolerierbarer Ausdruck adliger Verachtung der Konvention, sondern von staatspolitischer Relevanz und eine Bedrohung der christlichen Wertordnung Europas. Gerd Ueding schreibt: „Byrons größtes Kunstwerk war er selber, ein Monster der Grenzüberschreitung. Der Skandal war sein eigentliches Lebenselement.“

Zuletzt aber diente seine düstere Berühmtheit dem Freiheitskampf einer ganzen Nation. 1824 verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Nachricht vom Tod des 36-jährigen Dichters, der sich dem Aufstand der Griechen gegen die türkische Herrschaft angeschlossen hatte, und löste eine Welle der Solidarität aus, die nicht mehr verebbte: 1827 schlug die vereinigte französisch-englisch-russische Flotte die Türken in der Seeschlacht von Navarino, und Griechenland war frei. Der alte Goethe setzte dem bewunderten Byron im zweiten Teil des Faust mit den Euphorion-Szenen ein Denkmal.

Als er mit „Childe Harold’s Pilgrimage“ zum Bestsellerautor avancierte, reagierte Byron mit dem Spruch: „Eines Morgens wachte ich auf und stellte fest, dass ich berühmt war.“ Der junge Lord erfand haarsträubend blasphemische Geschichten, die „Cain“ hießen oder „Don Juan“. Er schrieb Gesänge und Gedichte als Gentleman, und das heißt: nebenbei. Poesie war ihm eine Art Tranquilizer: „die Lava der Fantasie, deren Ausbruch ein Erdbeben verhindert“. Er schrieb in den „hours of idleness“, den Stunden der Muße, um den Weltschmerz zu vertreiben, nannte sein Hauptwerk lässig „Donny Johnny“.

Byron-Lektüre war für die jugendlichen Leser seiner Zeit so spannend wie für die Adoleszenten von heute „Matrix“ oder „Spiderman“. Ob Childe Harold seine Pilgerreise zu Schiff antritt, ob der Korsar – „der Pirat als Intellektueller“ – seine Abenteuer zur See besteht, ob es um die eigenen Reisen geht: Gewässer aller Art spielen in Leben und Werk des Dichters eine zentrale Rolle, die Flüsse und Seen der schottischen Kindheit, Themse und Tejo, Rhein und Genfer See, das venezianische Meer, die griechische Küste.


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mare No. 38

No. 38Juni / Juli 2003

Von Eckart Goebel

Eckart Goebel, Jahrgang 1966, ist Dozent für Komparatistik in Berlin. Für mare schrieb er Artikel über Thomas Mann, über böse Pinguine und schöne Matrosen. Die Passagen aus Childe Harold’s Pilgrimage übertrug er selbst ins Deutsche.

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Vita Eckart Goebel, Jahrgang 1966, ist Dozent für Komparatistik in Berlin. Für mare schrieb er Artikel über Thomas Mann, über böse Pinguine und schöne Matrosen. Die Passagen aus Childe Harold’s Pilgrimage übertrug er selbst ins Deutsche.
Person Von Eckart Goebel
Vita Eckart Goebel, Jahrgang 1966, ist Dozent für Komparatistik in Berlin. Für mare schrieb er Artikel über Thomas Mann, über böse Pinguine und schöne Matrosen. Die Passagen aus Childe Harold’s Pilgrimage übertrug er selbst ins Deutsche.
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