Der Schnee von Lissabon

In Portugal wird Salz aus dem Meer gewonnen. Doch die Tage der letzten Salinen sind gezählt

Samouco
Im Schatten der Brücke

Die Flut treibt das Salz gegen den Strom, bald ist Hochwasser. Fischer kommen mit beladenen Booten zurück, ziehen die Ruder ein, zischende Laute zwischen den Zähnen. Buntgescheckte Katzen in Hörnähe rennen über den harten Sand und fangen rohe Fischstücke, die die Männer ihnen zuwerfen. Andere Fischer machen sich fertig für die Nacht und überprüfen ihre Netze.

Seebarsche und Seezungen sind gut zu fangen, meint der Alte, der auf einem Boot am Strand sitzt. Und Aale. Der Wind bringt frischen Ozeangeruch, der Himmel trübt sich, die Flut besiegt die Strömung des Nebenflusses.

Ja, ja, das sei der Bach von Samouco, der, der die Salinen ernähre, antwortet der Alte.

Auf der anderen Seite des Flusses steht Lissabon als Fata Morgana. In der feuchten Luft profiliert sich die neue Hängebrücke, ein großes Spielzeug über dem breiten Fluss und den salzigen Flächen, den fruchtbaren Feldern. Ja, ja, der Bach müsse bald entsandet werden, sonst sehe es schlecht aus mit den Salinen.

Die Brücke. Genannt nach Vasco da Gama, der vor fünfhundert Jahren Indien auf dem Seeweg erreichte. Hat sich nicht die Baufirma verpflichtet, den Bach zu entsanden, Studien über die Ökosysteme der Region, vor allem über das Vogelschutzgebiet in Auftrag zu geben?

Verpflichtet schon.

Der Alte schaut stolz auf die Brücke, als hätte er sie gebaut. Nicht für alle Menschen sind fertige Tatsachen Hiobsbotschaften. Er winkt seinen Freunden nach, die mit kleinen Booten ausfahren.

Auf den Salinen ist es Herbst geworden, bald sind die letzten Salzkörner des Jahres ausgescheffelt, zu pyramidenartigen Salzgebirgen aufgetürmt oder auf Booten in die Salzfabriken, in die Lager verfrachtet. Müssen sie aber im Freien den Winterregen überstehen, dann werden sie mit Stroh bedeckt.

Wenn man es bloß in Ruhe lassen würde, das Salz (meint Álvaro Costa von der Wohlfahrtsstiftung, die die größte Saline der Region Alcochete vor Jahren übernommen hat und nun weiterbetreibt). Kleine Mengen für den Haushalt verschenken sie einfach so, wenn die Leute darum bitten. Aber wenn sie nachts heimlich kommen und sich etwas Salz holen wollen, machen sie ein Loch ins Stroh, dann ist die Bedeckung undicht. Bei Regen gehen in wenigen Stunden mehrere Tonnen verloren.

Es weht wolkengraue Meeresluft. Wird es regnen, jetzt, wo die Jahresarbeit fast fertig ist? Ein Teil des Salzgebirges steht noch schneeweiß da, die Strohhaufen sind in der Nähe gestapelt, es fehlen Männer, und die wenigen Anwesenden müssen das restliche Salz wegscharren, bevor der Herbstregen kommt. Vogelscharen kreisen in der Nähe, ohnehin steht die Saline am Rande eines Schutzgebietes. Wasserhühner, Schnepfen, Graureiher, Säbelschnäbler, Stelzenläufer wechseln sich zwischen Himmel und Gräsern ab.

Ein Arbeiter behauptet, die Salinenarbeit gehe reibungslos an der Nistzeit vorbei: Bis zum Frühjahr lägen alle Salzfelder still.

Erst als die neue Brücke über den Tejo gebaut werden sollte, wenige Kilometer von dieser Salzlandschaft entfernt, wurde die Öffentlichkeit auf das Vogelschutzgebiet aufmerksam. Es waren die achtziger Jahre, es herrschte das EG-Fieber, die Hoffnung auf Wohlstand durch den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft. Die Regierung setzte sich gegen den Protest vieler Naturwissenschaftler und Umweltschutzorganisationen durch, die die neue Überführung als Eisenbahnbrücke weiter westlicher gebaut sehen wollten.

Die von der Lusoponte, die die riesige Brücke gebaut haben, sollen vor allem den Bach von Samouco entsanden (wiederholt Álvaro, als hätte er den Alten an der Flussmündung gehört), sonst sei das Gleichgewicht zerstört, die Sumpfgräser werden zu dichtem Gebüsch, wo Füchse und Schlangen ihr Jagdrevier fänden.

Wäre nicht der frische Wind, der dort weht, als Kristallisationsagent wehen muss, könnte die Salinenlandschaft in gewissen Momenten eine fast orientalische Stimmung vermitteln. Dann belebt sich die Szene wieder, Vögel kreischen und kreisen herum, die Männer betätigen einen kleinen motorbetriebenen Salzwagen vom Becken bis zum Fließband vor dem Salzgebirge. Die noch rötlichen Körner (rötlich wegen des Magnesiumanteils, der sich bald verflüchtigt, bis das Salz schneeweiß ist) werden auf dem großen Haufen mit der langen Salzschaufel zurechtgerückt.

Es ist Mittagszeit, ein weißhaariger Arbeiter hängt zwei Blechtöpfe mit Bacalhau und Kartoffeln an ein festes Gestell über das Feuer, eine einfache Konstruktion von zwei senkrechten und einer waagerechten Stange. Bacalhau, ein portugiesisches Nationalgericht, ist Stockfisch – und wird inzwischen aus Norwegen eingeführt. António Martins ist heute die Aufgabe des „coque“ („Koch“ in der Salinensprache, wohl eher englischer als deutscher Herkunft) zugeteilt. Er arbeitet seit über zwanzig Jahren im Salz, hat außerdem ein wenig Land, auf dem er Gemüse anbaut. Die Revolte der Salzarbeiter vor vierzig Jahren ist ihm noch gegenwärtig. Am Anfang dieser Revolte war die Forderungen der Salinenbesitzer, jedem „moio“, dem Salzgewichtmaß von etwa 670 Kilogramm, eine „canastra“ mehr zuzufügen – 42 Kilogramm. Aus der zusätzlichen „canastra“ wurden zwei und drei, bis die Arbeiter zu streiken beschlossen.

Daraufhin benachrichtigten die Besitzer die Autoritäten, und viele Arbeiter landeten in den Gefängnissen der berüchtigten politischen Polizei des langjährigen Diktators Salazar. Zeitgeschichte, für viele noch immer mehr als nur eine Bilderbucherinnerung.

Die Meereswolken verdichten sich am Nachmittag wieder, aber die Arbeiter kennen die Windrichtung, die Himmelsfarbe, und machen heitere Prognosen für die restlichen Tage der Woche, bis das ganze Salzgut dieses Jahres aufgetürmt und bedeckt ist und die Salinen mit neuem Salzwasser für ihren Winterschlaf überschwemmt werden können, bis zum nächsten Frühjahr, wenn die Reinigungsarbeiten anfangen. Am Nordhorizont zeichnen sich die Häuser von Lissabon ab. Dort arbeiten viele ehemalige Salinenarbeiter auf dem Bau.


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mare No. 12

No. 12Februar / März 1999

Von Teresa Salema und Christian Kaiser

Teresa Salema, 1947 in Lissabon geboren, ist an der dortigen Universität Dozentin für Germanistik. Bisher veröffentlichte sie fünf Romane. Auf deutsch erschien 1990: Sich erinnern. André Maria F., Reclam-Verlag Leipzig, 189 Seiten, nicht mehr lieferbar. Ihr jüngster Roman Benamonte (1997) erhielt den Prosapreis des portugiesischen PEN-Clubs.

Christian Kaiser, Jahrgang 1960, lebt als freier Fotograf in Hamburg und gehört der Agentur +49photo/Visum an. Für beide ist dies ihr erster Beitrag in mare

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Vita Teresa Salema, 1947 in Lissabon geboren, ist an der dortigen Universität Dozentin für Germanistik. Bisher veröffentlichte sie fünf Romane. Auf deutsch erschien 1990: Sich erinnern. André Maria F., Reclam-Verlag Leipzig, 189 Seiten, nicht mehr lieferbar. Ihr jüngster Roman Benamonte (1997) erhielt den Prosapreis des portugiesischen PEN-Clubs.

Christian Kaiser, Jahrgang 1960, lebt als freier Fotograf in Hamburg und gehört der Agentur +49photo/Visum an. Für beide ist dies ihr erster Beitrag in mare
Person Von Teresa Salema und Christian Kaiser
Vita Teresa Salema, 1947 in Lissabon geboren, ist an der dortigen Universität Dozentin für Germanistik. Bisher veröffentlichte sie fünf Romane. Auf deutsch erschien 1990: Sich erinnern. André Maria F., Reclam-Verlag Leipzig, 189 Seiten, nicht mehr lieferbar. Ihr jüngster Roman Benamonte (1997) erhielt den Prosapreis des portugiesischen PEN-Clubs.

Christian Kaiser, Jahrgang 1960, lebt als freier Fotograf in Hamburg und gehört der Agentur +49photo/Visum an. Für beide ist dies ihr erster Beitrag in mare
Person Von Teresa Salema und Christian Kaiser