Der Schatz aus der Jurasee

Wieso Erdöl? Meeröl müsste es heißen oder Pflanzenöl. Denn der Brennstoff entsteht aus den Algen vergangener Ozeane

EUROPA, VOR 200 MILLIONEN Jahren im Zeitalter des Jura. Wo einmal die Alpen ragen werden, breitet sich ein tropischer Ozean aus, in dem Fischsaurier schwimmen und Ammoniten, tintenfischähnliche Tiere in spiralförmiger Schale. Viel häufiger sind Einzeller an der Meeresoberfläche – Phytoplankton, Algen. Bis zu 500 Millionen der Winzlinge treiben in einem Liter Meerwasser.

Nach ihrem Tod sinken die Algen auf den Grund der Jurasee, wo ähnliche Bedingungen herrschen wie heute im Toten Meer: Es gibt keinen Sauerstoff im Wasser, die üblichen biologischen Abbauprozesse finden nicht statt. Die abgestorbenen Algen werden langsam unter einer Schicht von Schwebstoffen und Sand beerdigt.

Je tiefer das Plankton begraben ist, des-to wärmer wird seine Umgebung – alle 30 Meter steigt die Temperatur um ein Grad. Auch der Druck nimmt mit der Tiefe zu, Wasser wird aus allen Poren gequetscht. Bakterien machen sich über Bestandteile der Pflanzenreste wie Sauerstoff und Schwefel her. Was sie übrig lassen, besteht fast nur noch aus Kohlenwasserstoffverbindungen. 2000 bis 4000 Meter unter der Oberfläche folgt die entscheidende Phase der Verwandlung: Die Kohlenwasserstoffe rösten bei 60 bis 150 Grad; die Verbindungen reißen und gehen vom festen in den flüssigen oder gasförmigen Zustand über – es bilden sich Erdöl und Gas.

Es wäre mühsam, den Brennstoff in dieser Tiefe erschließen zu müssen. Glücklicherweise kommt er uns entgegen. Das darüber liegende Gestein presst den Un-tergrund zusammen wie einen Schwamm. In dünnen Rinnsalen strömen Öl und Gas Richtung Erdoberfläche, bis sie an eine undurchlässige Gesteinsschicht geraten, die Petrogeologen als „Erdölfalle“ bezeichnen. Das Öl staut sich in den Hohlräumen des darunter liegenden porösen Gesteins.

Das aus den Algen des Jurameers entstandene Erdöl quoll aus seinem Muttergestein großenteils in Sandschichten der Jura- und Kreidezeit und des Tertiär. Wo dem aufsteigenden Öl keine dichten Gesteine den Weg versperrten, drang es an die Erdoberfläche und bildete „Ölkuhlen“ wie etwa in Niedersachsen bei Celle und Peine. Die Menschen dort rochen ständig scharf und säuerlich nach Erdöl.

Als man erkannte, dass sich die klebrige Substanz als Brenn- und Schmierstoff sowie als Medizin eignete, sammelte man sie in Gruben. In Wietze erschloss man das Juraerdöl 1859 mit einer der ersten Ölbohrungen der Welt. Und mit der Erfindung der Petroleumlampe gegen Ende des  19. Jahrhunderts begann die systematische Suche nach dem „schwarzen Gold“.

Das Erdölzeitalter ist sowohl eine Ge-schichte von Pioniergeist und Fortschritt als auch von Gier und Gewalt. Die ersten Opfer waren in Pennsylvania ansässige Irokesenstämme, die von der amerikanischen Armee ermordet oder vertrieben wurden. Im Jahr 1900 sprudelte dort aus 35000 Bohrlöchern Öl. Um an den neuen Brennstoff zu kommen, wurde noch mancher Krieg geführt, das Verlangen nach Erdöl diktiert bis heute die Weltpolitik. „Ist etwas auf Erden schief und krumm, dann riecht es bestimmt nach Petroleum“, dichtete Kurt Tucholsky.

Die ersten Ölsucher wussten weder, wie Erdöl entsteht, noch kannten sie seine unterirdischen Wege; sie vertrauten ihrem Instinkt und besahen sich vor allem Anhöhen. Die Begründung lieferte die Geologie Jahrzehnte später nach: Emporgewölbte Gesteinsschichten – Antiklinale – eignen sich besonders gut als „Erdölfalle“. Auch Salzvorkommen hielten bereits die Pioniere für eine gute Spur zum Öl. So verdanken der Nahe und Mittlere Osten ihren Reichtum den „Salzfallen“. Im Sandstein unter pilzförmigen Salzstöcken – ein Andenken des urzeitlichen Ozeans Tethys – sind große Mengen Öl gefangen.

Unweigerlich kam der Moment, in dem sich zeigte, wie gut der Instinkt eines Ölsuchers war: dann, wenn nach der Quelle gebohrt wurde. Und was waren die ersten Versuche, in die Unterwelt vorzustoßen, für eine Schinderei! Die Bohrtürme waren aus Holz gezimmert, das Bohrgestänge bestand aus ausgehöhlten Baumstämmen, auf deren Spitzen Meißel aus Stahl geschraubt waren. Der Hohlraum nahm die aus dem Untergrund gefrästen Gesteine, den Bohrkern, auf. Praktisch nach jedem Meter, den sich der Bohrer in den Untergrund vorgearbeitet hatte, brach das Gestänge und musste ersetzt werden. Auch die Meißel waren schnell verschlissen.

Wenn nicht gleich eine Ölfontäne aus dem Bohrloch sprudelte, hieß das noch lange nicht, dass es kein Öl gab. Es konnte immer noch sein, dass die Quelle unter einem geringen Druck stand und das Öl deshalb nicht herausschoss. Erst die Un-tersuchung des Bohrkerns gab den Geologen endgültig Aufschluss, ob die Förderung von Erdöl möglich war.

Die armdicken Gesteinsstümpfe aus der Unterwelt sind Schnitte durch urzeitliche Landschaften, Geschichtsbücher der Erde. Die Experten am Bohrloch freilich interessiert zunächst nur eins: Ist Erdöl enthalten, oder ist die Bohrung „trocken“? Findet sich tatsächlich jene zähe, klebrige, meist nach Schwefel stinkende, schwarzbraune Masse, gilt es abzuschätzen, wie viel Erdöl die angebohrte Quelle fasst und wie die Qualität des Öls ist.

Die Kunst ist, aus den Eigenschaften des dünnen Bohrkerns auf die Zusammensetzung vieler Quadratkilometer Untergrund zu schließen. Die Geologen nehmen zuerst die im Bohrkern enthaltenen Bro-cken des Speichergesteins ins Visier, in dem sich das Öl befindet. Je größer der Anteil von Hohlräumen im Gestein, desto ergiebiger die Lagerstätte. Allerdings werden viele Hohlräume von Wasser ausge- füllt. Für die meisten Speichergesteine er-gibt sich daher lediglich ein Erdölgehalt von zehn bis 20 Prozent. Ein Teil davon wird durch den Druck der darüber liegenden Gesteinsmassen für immer in den Poren festgehalten.

Als Zweites prüfen die Geologen die Qualität des Öls: Konsistenz, Temperatur, Zusammensetzung. Um abzuschätzen, wie leicht das Öl aus der Lagerstätte strömen wird, versuchen die Wissenschaftler au-ßerdem, den Druck zu ermitteln, unter dem das Öl steht. Sie sind dabei heute nicht mehr allein auf die Interpretation des Bohrkerns angewiesen; ins Bohrloch abgeseilte Sonden können genaue Messungen vor Ort durchführen.

Seit den siebziger Jahren erleichtern zudem die Echobilder der Reflexionsseismik die Suche nach Erdöl. Dabei werden  Schallwellen in den Untergrund geschickt, die an den Grenzen der einzelnen Ge-steinsschichten reflektiert werden wie von einem Spiegel. Ihr Wiedereintreffen an der Erdoberfläche registrieren Geophone. Die Summe der Schallwellenaufzeichnungen ergibt ein dichtes Strichmuster, das die Konturen von Erdschichten und möglichen Ölreservoiren verrät.

Mit Hilfe der Reflexionsseismik kamen Geologen schließlich auch dem Juraöl auf die Spur. In den sechziger Jahren stellte sich heraus, dass die Ölquellen bei Celle und Peine aus einem riesigen Muttergestein stammen, das sich als eine große unterirdische Platte von Süddeutschland bis unter die nördliche Nordsee erstreckt. Der versteinerte Boden des Jurameers fällt von Süden nach Norden in die Tiefe ab: In Süddeutschland liegt der Juraseegrund direkt an der Erdoberfläche und enthält kein Erdöl; unter der Nordsee befindet sich die Schicht in einer Tiefe von 4000 Metern und ist stellenweise 1000 Meter stark. Von dort quoll das Öl in höher gelegene Speichergesteine.

Auf etwa zehn Milliarden Tonnen werden die Vorkommen im Grund der Nordsee geschätzt; mehr als die Hälfte wurde inzwischen gefördert. Den Anfang des Gas- und Ölbooms machte 1965 das West-Sole-Gasfeld im britischen Sektor, es folgten die Ölfelder Montrose und Ekofisk (1969), Forties (1970), Brent (1971) und viele andere. Alle Nordseeanrainer fanden ergiebige Erdölquellen; mit Ausnahme Deutschlands können sie seit Mitte der siebziger Jahre ihren Eigenbedarf an Öl und Gas decken und sogar größere Mengen exportieren. Das Ölgeschäft spülte Hunderte Milliarden Euro in die Staatskassen und machte etwa aus dem einstigen Fischer- und Bauernstaat Norwegen eines der reichsten Länder der Welt.

Zunächst erschloss man die im Flachwasser gelegenen Erdölquellen, inzwischen wird sogar am Übergang zum Nordatlantik in mehr als 600 Meter tiefem Wasser Öl gefördert. Bohrinseln können in diesen Regionen nicht mehr fest auf Betonfüßen im Meeresboden stehen. Stattdessen setzt man schwimmende Plattformen ein, die mit Stahlseilen am Grund verankert werden. In der Tiefsee vor der Küste Brasiliens fördern Schwimmplattformen sogar in 2000 Meter tiefem Wasser Öl.

Bohrinseln gehören zu den gewaltigsten Bauwerken, die je errichtet wurden. Die 420 Plattformen in der Nordsee sind zumeist verstrebte Stahlkonstruktionen, deren Grundflächen wenigstens so groß wie ein Fußballfeld sind. „Gullfaks C“, eine der größten Plattformen in der Nordsee, steht in einer Wassertiefe von 217 Metern auf einem Fundament von  einer Million Tonnen Beton. Auf der künstlichen Insel arbeiten und wohnen bis zu 300 Menschen; wie gefährlich ihr Job ist, zeigte sich am Fall der britischen Plattform „Piper Alpha“, die 1988 nach einem Gasleck explodierte. 167 Menschen starben.

Ein Drittel der weltweiten Offshore-Förderung findet derzeit in der Nordsee statt. Rund 10000 Kilometer Ölleitungen schlängeln sich durchs Meer und fördern Öl aus 85 Feldern. Im Ölrausch wurde der Nordseeboden mit Bohrungen durchlöchert wie ein Nadelkissen – mit abnehmendem Erfolg. Die großen Ölfelder wurden schnell gefunden, übrig blieben nur kleinere. So fanden die Briten mit ihren ersten 500 Bohrungen 3,2 Milliarden Tonnen Öl, die nächsten 500 Bohrungen brachten noch knapp 800 Millionen Tonnen, weitere 500 Bohrungen nur noch 450 Millionen. Dabei stieg die Erfolgsquote der einzelnen Bohrungen: Stieß man anfangs nur mit jeder elften Bohrung auf Öl, ist heute jede sechste erfolgreich. Um das Jahr 2030 werden die Reserven der Nordsee erschöpft sein, schätzen Fachleute.

Noch geben die Öltechniker nicht auf. Mit immer neuen technischen Finessen versuchen sie die letzten Reserven aus den Lagerstätten herauszuholen.


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mare No. 43

No. 43April / Mai 2004

Von Axel Bojanowski und Günter Radtke

Axel Bojanowski studierte Geologie in Heidelberg, Kiel und London. Heute arbeitet er als Wissenschaftsjournalist in Hamburg.

Günter Radtke, Grafiker und Mitbegründer der Illustrierten Stern, zeichnet am liebsten, was dem Auge normalerweise verborgen bleibt. Geologische Formationen haben es ihm besonders angetan.

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