Der rote Kontinent

Pech für alle Daheimgebliebenen: Ein Volk, das sich nie ans Rote Meer traute, kann keine Hochkultur sein

Auf alten Karten werden die Regionen südlich des Roten Meeres oft als "Indien" bezeichnet. Das nehmen manche Historiker von heute zum Anlass zu dozieren, wie wenig Wissen doch die Alten von der Welt gehabt hätten. Sogar Indien und Afrika gerieten da durcheinander.

Tatsächlich verhält es sich genau umgekehrt: Keine Ahnung vom eigenen Fach hat manch selbst ernannter Historiker. Kontinente sind nichts als Erfindungen der frühen Neuzeit. Davor gab es kein Europa, kein Afrika, und der Name "Indien" meinte etwas ganz anderes. Die Geschichte von Großregionen spielte sich um Meere und mächtige Wasserwege ab. Meere waren die Kontinente, Wasser führte zusammen. Land trennte nur, jahrtausendelang - bis zur Verbesserung der Überlandwege in der Neuzeit und dem Siegeszug der Eisenbahn. Nun bekamen die Landmassen Gesicht und Namen: Europa, Afrika. Heute ist der maritime Großraum namens "India" in Vergessenheit geraten, diese Region zwischen dem Horn von Afrika und Hinterindien, und ihr Herzstück: das Rote Meer.

Kein Gewässer auf dem Globus hat so sehr wie das Rote Meer Kulturen aus allen Weltregionen angezogen, aufgesogen und vermischt. Diese heiße salzige Wasserwüste mit ausgedörrten Ufern, wasserlosen Inseln und kriegerischen Nomaden im Hinterland ist ein Weltmeer, in dem seit der frühesten Antike Vertreter aller Hochkulturen von Europa bis Asien auftauchten, Handel trieben und sich oft niederließen. So sandte etwa die Pharaonin Hatschepsut eine Expedition in das Land Punt am südlichen Roten Meer, um neue Handelsräume zu erschließen; Nero kaufte mehrere Jahresernten Weihrauch aus der Region rund um das Rote Meer; das mittelalterliche Sultanat der Dahlak-Inseln beherbergte verbannte arabische Poeten; chinesische Gesandte kamen, um das "Westliche Meer" zu ergründen; die Portugiesen brachten im 16. Jahrhundert Kulturpflanzen und Silber aus Amerika; die Osmanen stationierten Truppen in allen Häfen, wie lange vor ihnen schon die antiken Perser.

Beinah möchte man sagen: Eine Kultur, die niemals am Roten Meer auftauchte, kann eigentlich keine Hochkultur sein. Das Rote Meer hat seit der Antike Afrika, die arabische Welt, Europa und Asien miteinander verbunden - über diese Handelsstraße gingen Sklaven und afrikanische Produkte wie Elfenbein, Perlen und Schildpatt, indische Gewürze und Textilien, Seide aus China, Myrrhe und Weihrauch aus Sokotra, Eritrea und Jemen, schließlich Feuerwaffen und Feuerwasser aus Europa in die ganze Welt. Kurz: Das Rote Meer war Zentrum der frühen Globalisierung.

Handel und kultureller Austausch hatten über Jahrtausende ein dichtes Netz geflochten, starke Bande, die bis heute bestehen. So zeigen Musik, Schmuck und Essen in Eritrea große Ähnlichkeiten mit Kunst und Kulinarischem des scheinbar so weit entfernten Indien. Und nicht von ungefähr ist heute China-Pop besonders beliebt in eritreischen und äthiopischen Bars, während die als fremd und langweilig empfundene Musik Europas kaum Gehör findet.

Schon seit grauer Vorzeit segelten alle sechs Monate Flotten von Handelsschiffen mit den Monsunwinden aus dem Indischen Ozean in das südliche Rote Meer und brachten Gewürze und andere Waren. Der Kulturtransfer fand auch in umgekehrter Richtung statt. Äthiopier siedelten schon im Altertum nach Indien über, um den dortigen Herrschern als Soldaten zu dienen. Äthiopischer Herkunft ist ebenfalls die indische Dynastie der Habeshi. Mehr noch: Über das Rote Meer gelangten vereinzelt auch Griechen und Römer in das Gebiet des Indischen Ozeans und hinterließen ihre Spuren.

Von den alten Schriften des Raumes um das Rote Meer hat sich neben Arabisch die antike Ge'ez-Schrift erhalten, in der heute noch Zeitungen und Bücher in Eritrea und Äthiopien gedruckt sind. Sie ist das Produkt gleich dreier Regionen: Über das Meer erreichte die Schrift des antiken Königreichs von Saba die Hafenstadt Adulis im damaligen Königreich Aksum, heute Eritrea. Erste Monumente wurden mit sabäischen Gravuren versehen. Später dann, im vierten Jahrhundert, mit zunehmender Ausweitung des Handels, gelangten indische Einflüsse in die Schriftsprache. Ebenfalls wurde das griechische Zahlensystem importiert, das bis heute in Kalendern Anwendung findet. Zur gleichen Zeit übernahm man auch die Religion des Nordens: das Christentum.


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mare No. 40

No. 40Oktober / November 2003

Ein Essay von Wolbert Smidt

Wolbert Smidt, geboren 1966, ist Historischer Anthropologe an der Universität Hamburg. Als Redakteur der Encyclopaedia Aethiopica und Lehrbeauftragter am Asien-Afrika-Institut hat er sich besonders mit der Geschichte Äthiopiens und Eritreas beschäftigt. Er war Leiter der Zeitschrift Selam Eritrea und arbeitet derzeit an einer Geschichte der eritreischen Küstenländer. Sein Buch Afrika im Schatten der Aufklärung. Das Afrikabild bei Kant und Herder ist 2000 im Holos-Verlag in Bonn erschienen.

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Vita Wolbert Smidt, geboren 1966, ist Historischer Anthropologe an der Universität Hamburg. Als Redakteur der Encyclopaedia Aethiopica und Lehrbeauftragter am Asien-Afrika-Institut hat er sich besonders mit der Geschichte Äthiopiens und Eritreas beschäftigt. Er war Leiter der Zeitschrift Selam Eritrea und arbeitet derzeit an einer Geschichte der eritreischen Küstenländer. Sein Buch Afrika im Schatten der Aufklärung. Das Afrikabild bei Kant und Herder ist 2000 im Holos-Verlag in Bonn erschienen.
Person Ein Essay von Wolbert Smidt
Vita Wolbert Smidt, geboren 1966, ist Historischer Anthropologe an der Universität Hamburg. Als Redakteur der Encyclopaedia Aethiopica und Lehrbeauftragter am Asien-Afrika-Institut hat er sich besonders mit der Geschichte Äthiopiens und Eritreas beschäftigt. Er war Leiter der Zeitschrift Selam Eritrea und arbeitet derzeit an einer Geschichte der eritreischen Küstenländer. Sein Buch Afrika im Schatten der Aufklärung. Das Afrikabild bei Kant und Herder ist 2000 im Holos-Verlag in Bonn erschienen.
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