Der Prozess

Der derzeit in Hamburg geführte Prozess gegen zehn somalische Piraten wirft bei genauer Betrachtung eine Reihe unerwarteter Fragen auf, vor allem nach dem eigentlichen Ziel des Verfahrens

Am 5. April 2010 beschossen zehn sogenannte Piraten aus Somalia 530 Seemeilen östlich des Horns von Afrika das unter deutscher Flagge fahrende Containerschiff „Taipan“ mit Kalaschnikows und einer Panzerfaust und enterten es. Den Hilferuf der deutschen Besatzung nahmen Soldaten des niederländischen Kriegsschiffs „Tromp“ auf, die die Somalier überwältigten und nach kurzer Schießerei verhafteten. Schließlich überstellten die Niederlande die zehn Männer im Alter zwischen 18 und 48 Jahren nach Hamburg, der Heimatstadt des geschädigten Reeders, wo ihnen seit November 2010 der Prozess gemacht wird – der erste seiner Art in einem rechtsstaatlichen System und einer, der sowohl weltweit für Aufsehen sorgt als auch brisante Fragen aufwirft.

Abgesehen vom alttestamentlichen Gerechtigkeitsprinzip der Sühne erlittenen Unrechts ist der Hamburger Prozess von vier rechtsphilosophischen Problemen tangiert, die das gesamte Netzwerk der globalisierten Sittlichkeit im Seehandel der Völker, Nationen und Kontinente mit- und untereinander betreffen. Zunächst einmal: Dass überhaupt drei Berufsrichter, mehrere Schöffen, Dolmetscher und Anwälte über Monate hinweg die Fragen klären, wie alt die zehn Piraten sind, von wo genau sie stammen, welchen Beruf sie ausüben, ist zivilisatorisch betrachtet ein bemerkenswerter Fortschritt, da man den Piraten über Jahrhunderte hinweg bekanntlich an der Rah aufhängte oder über die Planke gehen ließ. Aber was genau ist das Ziel dieses Prozesses – Prävention, Resozialisierung, Abschreckung? Wen in Somalia sollte welche Strafe vor welchen Taten abschrecken? Kurz: Ist der Prozess eine Farce?

Das deutsche Strafrecht kennt weder Begriff noch Straftatbestand der „Piraterie“. Während maritime Mächte wie die USA, Frankreich oder Großbritannien in ihren Strafgesetzbüchern ein explizites Pirateriedelikt führen, vertrat man in Deutschland nach 1945 den Standpunkt, einen derartigen Straftatbestand nicht zu brauchen, weil Piraterie nicht in der Nord- und Ostsee vorkomme und darüber hinaus das deutsche Gesetzbuch differenziert genug sei, Seeräuberei als eine Form der „Räuberei“ behandeln zu können. Also müssen sich die zehn Somalier für „erpresserischen Menschenraub“ in Tateinheit mit „Angriff auf den Seeverkehr“ rechtfertigen und bei einer Verurteilung mit fünf bis 15 Jahren Haft in deutschen Gefängnissen rechnen. Doch, erstens: Hat man es im Fall der somalischen Fischer tatsächlich mit Piraten zu tun? Zweitens: Agieren die somalischen Aggressoren im rechtsfreien Raum des Weltmeers, oder ist das Völkerrecht für Piraterie ausreichend präpariert? Drittens: Stellt „der Pirat“ die Vorform einer neuen Figur des Terroristen der Zukunft dar? Und viertens: Welche Instrumente könnte die internationale Gemeinschaft geltend machen, wenn der globalisierte Handel auf den Weltmeeren zugleich das globalisierte Geschäftsmodell bewaffneter Attacken, Entführungen und Erpressungen heranzüchtet?

Die Geschichte lehrt, dass der Pirat meist in Zeiten der Unsicherheit oder Krise auftaucht. Während des Kalten Krieges, als die Weltmächte UdSSR und USA die Weltmeere kontrollierten, gab es keinen Raum für Piraterie. Seit Ende des Ost-West-Konflikts Anfang der 1990er Jahre aber sind die Gewalttaten gegen Schiffe nach Angaben des International Maritime Bureau in Kuala Lumpur um mehr als das Sechsfache gestiegen. In einer völlig neuen Qualität von Gewalt wurden seither ganze Frachter geraubt und Besatzungsmitglieder getötet. Der Aktionsradius der Piraten hat sich ständig vergrößert, und die Kämpfe auf den Weltmeeren sind zum Teil eskaliert – Piraten töten Geiseln, Soldaten töten Piraten. Im Jahr 2010 wurden 1016 Seeleute von somalischen Piraten gefangen genommen, bis Ende September 2011 notierte das Maritime Bureau weltweit 35 Schiffsentführungen sowie acht Todesopfer. Aber: Wer oder was ist ein Pirat? Liegt eine eindeutige Definition vor? Und, wenn ja, ist sie heute auf somalische Fischer und morgen auf indonesische Bootsbauer anwendbar?

Das neugriechische Wort „peiratés“ geht entweder auf das spätantike „peira“ zurück, übersetzt mit „listiger Anschlag“, oder auf das etwas ehrenvollere „peiran“, „etwas wagen, erproben“. Einerlei ob Anschlag oder Wagnis, der Pirateriebegriff ist gegen seine vermeintlichen Synonyme abzugrenzen: Der Pirat ist weder Kaperer noch Freibeuter noch Korsar.


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mare No. 89

No. 89Dezember 2011 / Januar 2012

Von Christian Schüle und Mario Wagner

Den Hamburger Autor Christian Schüle, Jahrgang 1970, fasziniert die Figur des Seeräubers, weil das Problem der Piraterie im „maritimen Jahrhundert“ seines Erachtens zu einer neuen Verhältnisbestimmung zwischen Recht, Politik und Philosophie führen wird.

Mario Wagner, geboren 1974, lebt als Illustrator in San Francisco. Seine Arbeiten sind unter anderem im „New York Times Magazine“ und „Wall Street Journal“ zu sehen und in zahlreichen Ausstellungen vertreten.

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Vita Den Hamburger Autor Christian Schüle, Jahrgang 1970, fasziniert die Figur des Seeräubers, weil das Problem der Piraterie im „maritimen Jahrhundert“ seines Erachtens zu einer neuen Verhältnisbestimmung zwischen Recht, Politik und Philosophie führen wird.

Mario Wagner, geboren 1974, lebt als Illustrator in San Francisco. Seine Arbeiten sind unter anderem im „New York Times Magazine“ und „Wall Street Journal“ zu sehen und in zahlreichen Ausstellungen vertreten.
Person Von Christian Schüle und Mario Wagner
Vita Den Hamburger Autor Christian Schüle, Jahrgang 1970, fasziniert die Figur des Seeräubers, weil das Problem der Piraterie im „maritimen Jahrhundert“ seines Erachtens zu einer neuen Verhältnisbestimmung zwischen Recht, Politik und Philosophie führen wird.

Mario Wagner, geboren 1974, lebt als Illustrator in San Francisco. Seine Arbeiten sind unter anderem im „New York Times Magazine“ und „Wall Street Journal“ zu sehen und in zahlreichen Ausstellungen vertreten.
Person Von Christian Schüle und Mario Wagner