Der Preis der Welle

Clevere Idee eines Wirtschaftswissenschaftlers aus dem erzkapitalistischen Kalifornien: Welchen Geldwert hat eine Surfwelle, wenn man alle Faktoren einrechnet?

Als Kalifornier habe er jede Menge gute Surfspots vor seiner Haustür, sagt Will Henry. Dennoch ziehe es ihn jedes Jahr aufs Neue auf eine kleine portugiesische Insel mitten im Atlantik.

Die Rede ist von Madeira, 900 Kilometer vom europäischen Festland entfernt. Als Henry im Jahr 2001 zum ersten Mal auf der „Garteninsel“ landet, im Gepäck die Erzählungen anderer Wellenreiter von den traumhaften Surfbedingungen mit schier endlos brechenden Wellen, wird er Zeuge, wie ausgerechnet eine der besten Wellen dem Bau einer Küstenstraße zum Opfer fällt. Jardim do Mar, der Garten des Meeres, wie das madeirische Dorf an der steilen Westküste und seine vorgelagerte berühmte Welle kaum malerischer hätten genannt werden können, wurde von den Einheimischen wie von den wenigen Surfreisenden auch als „Juwel des Atlantiks“ verehrt.

Heute gilt Jardim do Mar als unsurfbar. Die Küstenstraße, die den Ort touristisch erschließen sollte, lässt die Welle zu nahe am Ufer brechen, als dass noch jemand auf ihr reiten könnte.

„Das Bauprojekt war vollkommen unsinnig“, empört sich Henry noch heute. „Die einzigen Touristen, die sich in diesen entlegenen Küstenort verirrten, waren reisende Surfer. Und genau die kommen nun nicht mehr, weil ihnen die Welle fehlt.“

Jemand, so Henry, hätte den Inselbehörden einmal vor Augen führen sollen, welche Verluste den Einheimischen durch das Bauprojekt entstehen könnten, vor allem im Fremdenverkehr, und sie den kurzfristigen Gewinnen der Baubranche entgegenhalten sollen. „Der Welle hatte ein Preisschild gefehlt, an dem jeder ihren Wert hätte ablesen können.“

Ein Preisschild für Wellen. Die Idee ist inzwischen Realität geworden. Der „Erfinder“ heißt Chad Nelsen und lebt im südkalifornischen San Clemente nahe San Diego. „Surfonomics“ nennt Nelsen die Datenerhebungen, Berechnungen und Analysen, anhand derer er den Wellen einen Wert zuschreiben will.

Surfonomics sei ein Kunstwort, erklärt Nelsen, zusammengesetzt aus den Begriffen surfing und economics. Es sei der Versuch, die Bedeutung des Wellenreitens für eine Gemeinde oder eine ganze Region auch in nüchternen ökonomischen Begriffen auszudrücken. „Bislang hieß es von Seiten der Surfer wie der Umweltschützer immer, die Wellen seien selbstverständlich für alle da und dürften daher keinen Preis haben.“

Doch mit solch luftiger Aktivistenprosa komme man in den Amtsstuben der Bürgermeister und Städteplaner nicht weit, wenn von der Gegenseite – Nelsen meint Baukonzerne und Finanzinvestoren, die die Küsten für Touristenresorts, Yachthäfen, neue Containerterminals begradigen und zubetonieren wollen – schlagende Argumente in Form von Gewinn- und Renditeaussichten, Wertsteigerungen und neuen Arbeitsplätzen ins Feld geführt werden. „Mit Surfonomics haben wir endlich ein Instrument in Händen, mit dem wir unseren Anliegen auf Augenhöhe und in der Sprache der Wirtschaft Gehör verschaffen können.“

Gemäß Surfonomics gibt es zwei Ansätze zur Ermittlung eines Wertes für Wellen: anhand objektiv messbarer Marktwerte und anhand subjektiver Wertschätzungen, die sich nur individuell ermitteln lassen. Zu den objektiven Marktwerten gehören die Einnahmen, die den Gemeinden direkt aus dem Besuch der Surfer zuströmen, etwa Einnahmen aus Hotelübernachtungen, Restaurantbesuchen, Surfbrettvermietungen und -reparaturen, Parkplatzgebühren.

Komplizierter ist der Ansatz, auch individuelle Wertschätzungen zu berücksichtigen. Chad Nelsen führt dazu empirische Studien unter Surfern durch, bei denen er die Frage stellt, wie viel es ihnen wert sei, eine bestimmte Welle zu surfen. Er verwendet dazu einen Reisekostenansatz: Je mehr Zeit ein Wellenreiter für die Anreise zu seinem Surfspot in Kauf nimmt, desto höher ist der individuelle Wert, den er der Welle beimisst. Herangezogen werden also Kosten der Anreise, gemessen in Treibstoffkosten, und dem, was Ökonomen Opportunitätskosten nennen, also Einnahmen, auf die der Surfer verzichtet, weil er, statt zu arbeiten, zum Wellenreiten fährt.


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mare No. 104

No. 104Juni / Juli 2014

Von Frank Odenthal

Frank Odenthal, Jahrgang 1971, lebt als freier Journalist an der deutsch-schweizerischen Grenze und damit viele hundert Kilometer entfernt von der nächsten Küste, die sich zum Wellenreiten eignet. Daher zieht es ihn alljährlich an die französische Atlantikküste, wo er seiner Surfleidenschaft nachgeht. In mare No. 89 berichtete er darüber, wie ein Surfer das Rätsel um am Atlantikstrand angeschwemmte Plastikteile löste.

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Vita Frank Odenthal, Jahrgang 1971, lebt als freier Journalist an der deutsch-schweizerischen Grenze und damit viele hundert Kilometer entfernt von der nächsten Küste, die sich zum Wellenreiten eignet. Daher zieht es ihn alljährlich an die französische Atlantikküste, wo er seiner Surfleidenschaft nachgeht. In mare No. 89 berichtete er darüber, wie ein Surfer das Rätsel um am Atlantikstrand angeschwemmte Plastikteile löste.
Person Von Frank Odenthal
Vita Frank Odenthal, Jahrgang 1971, lebt als freier Journalist an der deutsch-schweizerischen Grenze und damit viele hundert Kilometer entfernt von der nächsten Küste, die sich zum Wellenreiten eignet. Daher zieht es ihn alljährlich an die französische Atlantikküste, wo er seiner Surfleidenschaft nachgeht. In mare No. 89 berichtete er darüber, wie ein Surfer das Rätsel um am Atlantikstrand angeschwemmte Plastikteile löste.
Person Von Frank Odenthal