Der Nachtwanderer

Leon Spilliaert, führender Maler des belgischen Expressionismus und Symbolismus, verbrachte die meiste Zeit seines Lebens im mondänen Seebad Oostende. Sein Augenmerk galt aber nicht der Belle Époque, vielmehr der düsteren Tristesse seiner Heimatstadt

Am Visserskaai streiten Katzen im Schutz der Dunkelheit um Heringsreste. Die Straßenlampen sind gelöscht, nur der kreisende Strahl des Leuchtturms bringt ein wenig Licht an die Kais und Molen. Es ist tiefe Nacht in Oostende, der Hafenstadt an der flämischen Nordseeküste. Kaum eine Menschenseele ist unterwegs. Die zechenden Matrosen haben längst torkelnd die Hafenkneipen verlassen. Stille hat sich über den Kursaal am Zeedijk gelegt, in dem ansonsten ein mondänes Publikum gefeierten Gesangskünstlern wie Enrico Caruso zujubelt. Und beim Wellington-Hippodrom hört man nicht mehr die anfeuernden Rufe der Wettenden, sondern nur gelegentliches Schnaufen und Scharren aus den Pferdeställen. 

Wie in fast jeder Nacht ist in dieser gespenstischen Menschenleere Leon Spilliaert unterwegs. Er findet keinen Schlaf, da er unter chronischen Magenschmerzen leidet, gegen die Medikamente wirkungslos sind. Spilliaert ist bei seinen einsamen, irrlichternden Streifzügen von der mystischen Atmosphäre des nächtlichen Oost­ende fasziniert. „Ich bin zwar von hier, wusste aber nicht, dass ich das Meer so liebe.“ Bei den Einheimischen gilt Spilliaert als verschrobener Farbenkleckser, was den ruhelosen Nachtwandler nicht davon abhält, wieder und wieder in die Schattenwelt seiner Heimatstadt einzutauchen. 

Wieder zu Hause, ist für Spilliaert noch immer nicht an Schlaf zu denken. Er nimmt groben Karton, den er mit Reißzwecken auf einem Brett fixiert, und hält in dunklen, dämmrigen Farbnuancen das gerade Gesehene und Erlebte auf Zeichnungen fest, die mit ihrer beängstigenden und erstarrten Ausstrahlung seinen eigenen Gemütszustand widerspiegeln. Auf seinen Bildern, meistens mit Buntstift, Pastell, Gouache oder verdünnter ostindischer Tinte geschaffen, sieht man die Docks in düsteren Nachtfarben, das fahle Mondlicht, das sich schwach im Meer spiegelt, einsame Straßenlaternen am Kai, geheimnisvolle Dünen, buckelige Wellenbrecher und den leeren Deich, der sich am Horizont in der Unendlichkeit des Meers verliert. „Ich lebe in einer wahrhaftigen Phantasmagorie und arbeite frenetisch. Alles um mich ist Traum und Spiegelung.“

Die architektonischen Extravaganzen der Küstenstadt, ihre neoklassizistischen Hotelpaläste, ihre loggiageschmückten Villen und viktorianischen Parkpavillons, stellt Spilliaert als albtraumhafte, rätselhafte Kulissen dar. In der Finsternis verschwimmen Formen und Farben. Das „Royal Palace Hotel“ zeigt Spilliaert wie eine gewaltige, uneinnehmbare Festung. Den fürstlichen Speisesalon des „Hôtel d’Allemagne“ stellt er verwaist dar, aber so gedeckt, als könnten jederzeit Gespenster zum Diner eintreffen. Aus dem unendlichen Arkadengang der Königlichen Galerien lehnt sich eine Zylinder tragende schwarze Silhouette wie ein Phantom heraus. Auf seinem bekanntesten, 1908 entstandenen Werk „Vertige“ (Schwindel) steht auf einer riesenhaften Treppe an der Strandpromenade eine dämonenhafte, in Nachtschwarz gewandete Frauengestalt, deren langes Haar vom Wind wie eine Rauchsäule hinweggefegt wird. Ein Ertrinkender wird von einer Wasserhexe am Gemächt gepackt und in die Tiefe des Meers hinabgezogen. Am entvölkerten Strand bewegen sich Strichmännchen mit bizarren Verrenkungen auf kistenförmige Strandkabinen zu. Monströse Wale lauern im Hafenbecken, während Wrackräuber ihre schweren Säcke schultern. Spilliaerts Universum bietet keinen Schutz, keine Geborgenheit, keine Beschaulichkeit, es ist pure Depression und Tristesse. Kein Wunder, dass man seine verstörenden Darstellungen mit jenen des von Ängsten gepeinigten Edvard Munch vergleicht oder mit den metaphysischen Kompositionen von Giorgio de Chirico.

An der Schwelle zum 20. Jahrhundert ist Oostende noch nicht die abgeschminkte Stadt der Baukräne und des Baderummels, die sie heute ist, sondern die stolze „Königin der Strände“. Leopold I. hat das einst dahinschlummernde Fischerstädtchen zu seiner Sommerresidenz erkoren, und Leopold II. hat es, größtenteils mit dem durch menschliche Gräuel erwirtschafteten Reichtum aus seinem Kongo-Privatbesitz, zum funkelnden Seebad ausgebaut. Gekrönte Häupter, Adlige und Industriebarone kommen aus ganz Europa angereist, um die Badekarren am weiten Strand zu bevölkern, sich gegenseitig zu Champagnersoiréen einzuladen und im Casino ganze Vermögen zu verspielen. 
Umgeben von dieser Welt großbürgerlicher Vergnügungen wird Spilliaert am 28. Juli 1881 in eine wohlhabende Familie geboren. Er ist das älteste von sieben Geschwistern, von denen zwei jung sterben. Als Kind äußert er den Wunsch, Seemann zu werden. Die Passion fürs Meer hat er von seinem Großvater, der Klempner ist und nebenbei als Leuchtturmwärter arbeitet. 


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mare No. 171

mare No. 171August / September 2025

Von Rob Kieffer

Rob Kieffer, Jahrgang 1957, Journalist und Autor in Luxemburg, war in Oostende ­beeindruckt von den Königlichen Galerien, die in Spilliaerts Werken wie eine Spuk­kulisse auftauchen und mit dem dazugehörigen Luxushotel „Therma Palace“ noch ­immer den verblichenen Glanz der Belle Époque ausstrahlen.

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Vita Rob Kieffer, Jahrgang 1957, Journalist und Autor in Luxemburg, war in Oostende ­beeindruckt von den Königlichen Galerien, die in Spilliaerts Werken wie eine Spuk­kulisse auftauchen und mit dem dazugehörigen Luxushotel „Therma Palace“ noch ­immer den verblichenen Glanz der Belle Époque ausstrahlen.
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Vita Rob Kieffer, Jahrgang 1957, Journalist und Autor in Luxemburg, war in Oostende ­beeindruckt von den Königlichen Galerien, die in Spilliaerts Werken wie eine Spuk­kulisse auftauchen und mit dem dazugehörigen Luxushotel „Therma Palace“ noch ­immer den verblichenen Glanz der Belle Époque ausstrahlen.
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