Der Moment vor der Ekstase

Künstler, dem Geheimnis der Welle auf der Spur

„Seit dem Alter von sechs Jahren hatte ich die Manie, die Formen der Gegenstände zu zeichnen. (…) Mit neunzig Jahren werde ich in das Geheimnis der Dinge eindringen; mit hundert Jahren werde ich bestimmt auf einer Stufe des Wunders angelangt sein, und wenn ich hundertzehn Jahre alt sein werde, wird alles, sei es ein Punkt, sei es eine Linie, bei mir lebendig sein. Ich bitte die, die ebenso lange wie ich leben werden, nachzusehen, ob ich mein Wort halte.“

Ob der japanische Holzschneider Hokusai, der Schöpfer der berühmten Welle von Kanagawa, die Natur oder die Welle zum Leben erweckt, ist exemplarisch eine der wichtigsten Fragen der Kunst- und der Naturästhetik. Dieselbe Frage stellt sich vor der Arbeit des Videokünstlers Gary Hill. Ist seine Woge lebendiger als die von Hokusai?

Ein einfacher, hölzerner Stuhl lädt uns ein, „in“ der Installation Platz zu nehmen. Etwas zögerlich legt man den Arm auf die überdimensionierte Holzplatte und lässt den Blick unwillkürlich Richtung Leinwand schweifen. Dort wälzt sich über eine querformatige Projektionsfläche eine Welle. Ist es eine Woge, oder sind es viele Wellen? Die Antwort lässt auf sich warten, denn die „Learning Curve“ hält die Betrachter mit ihrer Faszination gefangen. Sie lässt sie, und dies ist die Intention des kalifornischen Videokünstlers, eins werden mit der Installation: „Ich möchte, daß man in die Arbeit hineingezogen wird, dass man sich bewusst wird, wie man den Ort innerhalb der konzeptionellen Strategie des jeweiligen Stückes wahrnimmt.“ Der Titel „Learning Curve“ verwirrt zunächst. Handelt es sich nicht um eine mathematische Sinuskurve aus einer Schultafel, die in der künstlerischen Phantasie mit einer kalifornischen Welle verwechselt wird?

Zunächst bezieht sich „Learning Curve“ tatsächlich auf eine „Lernkurve“; ein Diagramm, das aufzeigt, wie schnell jemand eine bestimmte Fähigkeit zu erlernen vermag. Dass Hills Werk eine Reminiszenz an schulische Zeiten ist, erschließt sich auch denjenigen Betrachtern, die weder von der künstlerischen Passion für den Surfsport noch vom Mobiliar einer kalifornischen High School Kenntnis haben. Gary Hill hat einen industriellen Schulstuhl gewählt, fast ein Ready-Made im Duchampschen Sinn. Dieses erinnert zum einen an, vielleicht bittere, Schulstunden des Künstlers, zum anderen kann sich Hill der eindimensionierten Haltung des Betrachters sicher sein. Winkelartig wird die Lehne zum Tisch und verbindet den soliden Stuhl mit der Leinwand. Holz und Leinwand, Materialität und Projektionsfläche sind unmittelbar verbunden. Hat der Betrachter einmal Platz genommen, weichen seine Augen nicht mehr von der schmalen Leinwand. Im verdunkelten Ausstellungsraum – und wie so oft in der Videokunst – drängt sich das berühmte Höhlengleichnis von Plato auf. Ähnlich wie die Höhlenbewohner, die gefesselt auf das Schattenspiel der Höhlenwand starren, ist auch der Hillsche Betrachter von den sich bewegenden Bildern magisch angezogen, gleichsam „gefesselt“. Was ist das Geheimnis der Welle?

Leise bahnt sich eine Videowoge ihren Weg über die Leinwand, sie biegt sich, und schließlich… sie bricht sich nicht. Während man vergebens verharrt und auf den ekstatischen Augenblick des Brechens wartet, beginnen die, nur einige Sekunden dauernden, Bilder von neuem. Die Sequenzen sind so geschickt geschnitten, dass eine sich niemals brechende Welle suggeriert wird – als Allegorie der Ewigkeit. „Das Moderne in der heutigen Kunst ist das Vorübergehende, das Flüchtige, das Zufällige: die eine Hälfte der Kunst. Das Ewige und das Unbewegliche macht die andere Hälfte aus.“ Charles Baudelaire beschrieb eine Verknüpfung von Flüchtigkeit und Dauer als Charakteristikum der Moderne, doch sein Begriff der „Moderne“ galt den Arbeiten Gustave Courbets. Dies ist bemerkenswert, denn auch von dem Begründer des französischen Naturalismus gibt es eine Serie von scheinbar zeitlosen Wellendarstellungen, deren Ikonographie bis heute nicht entschlüsselt ist.


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mare No. 3

No. 3August / September 1997

Von Kathrin Wißmann

Kathrin Wißmann, Jahrgang 1968, ist Kunsthistorikerin und lebt als freie Journalistin in Berlin.

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Vita Kathrin Wißmann, Jahrgang 1968, ist Kunsthistorikerin und lebt als freie Journalistin in Berlin.
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Vita Kathrin Wißmann, Jahrgang 1968, ist Kunsthistorikerin und lebt als freie Journalistin in Berlin.
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