Der Mensch als Aquarium

Der Berliner Arzt Fritz Kahn wurde in den 1920er Jahren weltweit bekannt, weil seine Bücher komplexe Prinzipien der Natur allgemein verständlich machten. Das Mensch und die Bewohner der Meere waren seine liebsten Vergleichsobjekte

„Mein lieber Sohn!“, schreibt Arthur Kahn im März 1904 an Bord des Schnelldampfers „Moltke“ auf dem Weg von New York nach Hamburg. „Da ich weiß, wie sehr du dich freust, wenn ich dir etwas vom Meere schreibe, so will ich mich die Mühe nicht verdrießen lassen.“ 15 Jahre zuvor, gleich nach der Geburt seines Sohnes Fritz 1888, ist er ausgewandert, seine Familie jedoch konnte nur drei Jahre bei ihm bleiben, nun kehrt der Vater nach Deutschland zurück. Trennend lag der Atlantik all die Jahre zwischen ihnen, jetzt beschreibt Arthur Kahn das Meer wie eine Straße, die ihn nach Europa und damit nach Hause führt.

Einige Jahre später schreibt Fritz, inzwischen Medizinstudent, aus den Ferien im südschwedischen Seebad Mølle an seine Eltern in Berlin: „Ich liege den ganzen Tag am oder im Meer, das hier bei heißem Wetter immer hoch brandet in ungeheurer Größe.“ Er berichtet detailliert von seiner vorzüglichen Unterkunft und anregenden Kletterpartien mit jungen Schwedinnen, bevor er resümiert: „Zu schreiben habe ich nichts, da ja hier gottlob nichts los ist, sondern das Leben still und frei zugeht. Der ganze Platz ist so wild und alles bietend, dass jeder ein Schaf ist, der an der Ostsee sitzen bleibt.“

Er bleibt zunächst in Berlin, wo er nach seiner Promotion als Chirurg, Geburtshelfer und Journalist arbeitet. Für „Kosmos. Gesellschaft der Naturfreunde“ verfasst er die Bücher „Die Zelle“ und „Die Milchstraße“. 1922 erscheint dort der erste Band von „Das Leben des Menschen – Eine volkstümliche Anatomie, Biologie, Physiologie und Entwicklungsgeschichte des Menschen“. Schon in der Einleitung dient ihm das Meer als Assoziationsraum: „Wärme und Licht sind eins, sind der Wellenschlag der schwingenden Uratome im Meer des Weltäthers gegen die Signalapparate unserer Körperküste. Wärme ist das sanfte Wellenplätschern des Äthermeeres am weißen Strande unserer Körperhaut, Licht ist der Sturm des Ätherozeans, der in die Kristallbucht unserer Augen hineinflutet.“

Dass Kahn hier vom längst als Mythos erkannten Äther spricht, liegt nicht an mangelnder Sachkenntnis. Er interessiert sich leidenschaftlich für moderne Physik und Astronomie, dennoch scheint ihm das alte Äthermodell für sein Laienpublikum geeigneter als Einsteins neues Raumkonzept. Kahns oberste Prioritäten lauten Verständlichkeit und Anschaulichkeit, dafür lässt er auch mal fünf gerade sein. Der ungeheure Erfolg von „Das Leben des Menschen“ beruht vor allem auf seinen unkonventionellen Bildanalogien zu Natur und Technik, allen voran das Plakat „Der Mensch als Industriepalast“, auf dem die Organe als Fabriken und das Gehirn als Betriebszentrale dargestellt sind.

Auch „Der Mensch als Aquarium“ ist eine von Kahns modernen Bildmetaphern, zunächst erscheint sie jedoch als aufgeschnittener Torso im alten Stil: In der fantastischen Körperlandschaft fließt und sprudelt es aus allen Rohren zwischen exotischen Organgewächsen hindurch, darunter ruht still die See. Später zeigt Kahn das Motiv noch einmal in modernisierter Form: als gläsernen Robotermenschen, an dem nichts mehr an die natürliche Anatomie erinnert, der aber einen Einzelaspekt so einprägsam verdichtet, dass damit das Unsichtbare auf anderer Ebene sichtbar wird.

In Zusammenarbeit mit unterschiedlichsten Künstlern, von denen sich nur noch wenige ermitteln lassen, entwickelt Kahn eine spektakuläre, stilistisch extrem vielfältige Bildsprache. Elemente aus Dadaismus, Futurismus, Surrealismus und der Neuen Sachlichkeit, aus technischen Zeichnungen und aus der Werbung fließen ein, aber auch neue Techniken wie Comic, Fotomontage und Collage. Im Gegensatz zu den steifen populärwissenschaftlichen Illustrationen des 19. Jahrhunderts zeigt Kahn lebendige Menschen im Alltag der industriellen Moderne. Kultur und Technik nutzt er gleichermaßen als Projektion der inneren Natur wie als ihr Erklärungsmodell.

Sehr häufig veranschaulicht Kahn derartige „Schwesterstrukturen“ in Natur und Kultur mithilfe einer direkten Gegenüberstellung. Nachdem er beispielsweise Qualle und Menschenherz in Bau, Organisation und Arbeitsweise verglichen hat, fasst er zusammen: „Das Menschenherz ist ein typischer Reflexapparat. Wer im Meer eine Qualle hintreiben sieht, sieht das lebende Modell eines arbeitenden Menschenherzens vor sich.“

Der wilden Mischung unterschiedlichster Bilder entspricht seine collagenhafte Montage der Texte. Sachliche Passagen kombiniert er mit literarischen und philosophischen Assoziationen, wissenschaftshistorischen Rückblenden, fantastischen Geschichten und technischen Visionen. Dazwischen erzählt er auch von persönlichen Erlebnissen wie der äußerst schmerzhaften Begegnung mit den Nesselfäden einer Portugiesischen Galeere. Sie erinnert ihn an Herkules, der von seiner eifersüchtigen Geliebten mit Quallengift ermordet wurde, und weckt einen grausamen Verdacht: „Ich vermute, das Nessusgewand war mit dem Schleim von Portugiesischen Galeeren bestrichen.“


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mare No. 78

No. 78Februar / März 2010

Von Uta von Debschitz

Uta von Debschitz, geboren 1964, ist Architektin und Autorin in Berlin. Kürzlich veröffentlichte sie gemeinsam mit ihrem Bruder den Bildband Fritz Kahn – Man Machine / Maschine Mensch (Springer). Ihre gleichnamige Ausstellung ist bis 11. April im Berliner Medizinhistorischen Museum zu sehen.

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Vita Uta von Debschitz, geboren 1964, ist Architektin und Autorin in Berlin. Kürzlich veröffentlichte sie gemeinsam mit ihrem Bruder den Bildband Fritz Kahn – Man Machine / Maschine Mensch (Springer). Ihre gleichnamige Ausstellung ist bis 11. April im Berliner Medizinhistorischen Museum zu sehen.
Person Von Uta von Debschitz
Vita Uta von Debschitz, geboren 1964, ist Architektin und Autorin in Berlin. Kürzlich veröffentlichte sie gemeinsam mit ihrem Bruder den Bildband Fritz Kahn – Man Machine / Maschine Mensch (Springer). Ihre gleichnamige Ausstellung ist bis 11. April im Berliner Medizinhistorischen Museum zu sehen.
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