Der Meermensch

Alexander Gorodnitzki ist nicht nur ein führender russischer Meeres­geologe, sondern zugleich auch eine Ikone des russischen Protestlieds. Das Porträt eines Vielgesichtigen

Mein Gott, warum bin ich kein Romantiker! Warum ist es mir nicht gegeben, mit Leidenschaft meine Träume zu verteidigen! Doch was ist ein Romantiker? Ist es nicht jener, der, Begeisterung und Erleuchtung mit Banalität vermischend, in einem Schwarm großer Worte durchs Leben schwebt? Ich schwanke zwischen Neid auf diese Unbefangenheit und Ironie. Aber wenn ich einen Romantiker hoch zwei vor mir habe, einen romantischen Gelehrten, multipliziert mit einem romantischen Troubadour, dann verstumme ich voller Staunen über so ein für unser Jahrhundert untypisches Phänomen.

„Der Ozean, das ist alles, die Wiege des Lebens. Das sind die ersten Aminosäuren, die aus Vulkanen hervorgingen. Das ist eine unerschöpfliche Nahrungsquelle. Das, was wir atmen. Der Spiegel des Weltmeers, seine Verdunstungen prägen die Atmosphäre. Wenn wir den Ozean vergiften, vergiften wir alles. Und schließlich ist er eine strategische Militärbasis. Kurzum, der Ozean ist die Erkenntnis der Welt, vier Fünftel des Erdballs. Nicht Erde, sondern Planet Ozean wäre die richtigere Bezeichnung für unseren Planeten.“

Ich will einwenden, dass der Mensch trotz allem nicht im Ozean lebt, sondern auf der Erde, aber mein Gesprächspartner wirkt, während er diese Sätze sagt, wie verwandelt. Seine Augen versprühen Freude. Aus einem nicht sehr großen, kräftigen alten Mann verwandelt er sich in einen begeisterten jungen Mann, aus einem Doktor der Wissenschaften in einen Rhapsoden. Der Streit einer ganzen Generation in Russland, der in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entbrannte, wer wichtiger und nützlicher sei, die Physiker oder die Lyriker, findet im konkreten Fall Alexander Gorodnitzki mit der Vereinigung von beiden Gestalten in seiner Person ein Ende.

Gorodnitzki hat nicht nur Ozeane erobert, sondern auch riesige, voll besetzte Konzertsäle. Gorodnitzki ist ein typischer Vertreter der „Schestidesjatniki“: So taufte man bei uns die Lyriker und Prosaiker, die vor 40 Jahren für die Befreiung vom Stalinismus kämpften, indem sie einfache menschliche Gefühle besangen. Er wurde zu einem „Barden“, einem Poeten, Komponisten und Sänger in einer Person, zu einem der Gründungsväter des „Autorenlieds“, der russischen Variante des westlichen Protestsongs.

„Dein Beitrag zur Wissenschaft?“
„Ich habe mich mit der Erforschung der Natur von magnetischen Anomalien im Ozean befasst, mit der geologischen Struktur und der tektonischen Evolution der ozeanischen Lithosphäre. Auf der Grundlage meiner Arbeit wurde ein neues petromagnetisches Modell der ozeanischen Lithosphäre erarbeitet.“
Seine Worte klingen wie ein chiffrierter Text, aber es steckt verborgene Poesie darin.
„Arbeitest du noch?“
„Zurzeit beschäftige ich mich mit einem neuen Bereich in der Magnetometrie des Meeres, mit der Erforschung der dünnen Raumstruktur des anomalen Magnetfelds.“
Ich nicke bedeutungsvoll.
„Das braucht man für die Suche nach Öl und Gasvorkommen und festen Bodenschätzen in den Gewässern von Schelfmeeren.“
„In der Sowjetunion warst du Poet und Dissident.“
„Bis heute macht man mir das zum Vorwurf.“

In der Tat. Kürzlich lief im staatlichen russischen Fernsehen eine Sendung über die Geschichte der Intelligenzia. Das war ein strenger, an die heutige Intelligenzia gerichteter Aufruf in bester sowjetischer Tradition, die staatliche Politik zu unterstützen. Als abschreckende Beispiele wurden einige Namen von Schriftstellern und Journalisten genannt, darunter auch der meine und Alexander Gorodnitzki. Da wir uns in demselben Antiregierungsboot wiederfanden, das, wenn nicht gerade unverzüglich versenkt, so doch zumindest von Warnscheinwerfern angestrahlt werden musste, telefonierten wir miteinander und verabredeten uns im Moskauer Schriftstellerklub, um unsere Reaktion darauf abzustimmen. Wie es der Zufall wollte, war ich gleichzeitig beauftragt, ein Porträt von Gorodnitzki, dem Eroberer und Versteher der Meere, zu schreiben.

Anlass für die Kritik an Gorodnitzki im Fernsehen waren seine Verse, die er vor 52 Jahren (sic!) geschrieben hatte. Diesen politischen Surrealismus zu glauben fiel sogar mir schwer, der ich derlei Paradoxien unseres Landes gewohnt bin. Das Gedicht war eine unmittelbare Reaktion auf die ungarische Revolution von 1956. Der Held des Gedichts ist ein sowjetischer Panzer. Er zermalmte eine Straßenbarrikade, wurde aber von aufständischen Ungarn angezündet: „Auf der Kreuzung brennt ein Panzer / Gut, dass dieser Panzer brennt!“
„Und wer brennt in diesem Panzer?“, tobte der heutige Fernseher und unterstrich damit die antipatriotische Haltung des Dichters.

„Ich war damals 22“, sagt Gorodnitzki, während er die Speisekarte des Klubrestaurants studiert, das für seine russische Küche berühmt ist. „Erstaunlich, dass sie mich damals nicht eingesperrt haben.“
Die Verse waren seinerzeit natürlich nicht gedruckt, dafür aber im Samisdat weit verbreitet worden.
„Hattest du keine Angst, so aufrührerische Sachen zu schreiben?“
„Ich war ein junger Dummkopf, heute wäre ich vorsichtiger.“
„Was wollen wir trinken?“, frage ich und blättere in der Weinkarte.
„Die Weine aus Chile, Uruguay und Australien laufen den französischen den Rang ab, weil in Europa die ökologischen Bedingungen nicht mehr so sind wie im 19. Jahrhundert und die Reben die ganzen Verschmutzungen in sich aufnehmen.“

Man bringt uns chilenischen Wein. Wir stoßen an, und ich gratuliere Gorodnitzki zu einem runden Geburtstag. Er ist gerade 75 geworden.
„Zu so einem Geburtstag muss man sich wie zu einem Polizisten verhalten, der am Boden liegt“, sagt der Jubilar leichthin. „Im zweiten Gang drüber und einfach weiterfahren.“
„Du siehst gut aus.“ Der Kurzhaarschnitt und der energische Gesichtsausdruck lassen ihn jünger aussehen. „Ich würde auch gern so aussehen, wenn ich so alt bin wie du.“


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mare No. 71

No. 71Dezember 2008 / Januar 2009

Von Viktor Jerofejew und Gueorgui Pinkhassov

Viktor Jerofejew, geboren 1947 in Moskau als Sohn einer Diplomatenfamilie, ist einer der führenden Autoren Russlands. In mare No. 63 schrieb er über die Russen in St. Moritz und ihre Liebe zum Kaviar.

Gueorgui Pinkhassov, 1952 ebenfalls in Moskau geboren, ist Fotograf der Pariser Agentur Magnum.

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Vita Viktor Jerofejew, geboren 1947 in Moskau als Sohn einer Diplomatenfamilie, ist einer der führenden Autoren Russlands. In mare No. 63 schrieb er über die Russen in St. Moritz und ihre Liebe zum Kaviar.

Gueorgui Pinkhassov, 1952 ebenfalls in Moskau geboren, ist Fotograf der Pariser Agentur Magnum.
Person Von Viktor Jerofejew und Gueorgui Pinkhassov
Vita Viktor Jerofejew, geboren 1947 in Moskau als Sohn einer Diplomatenfamilie, ist einer der führenden Autoren Russlands. In mare No. 63 schrieb er über die Russen in St. Moritz und ihre Liebe zum Kaviar.

Gueorgui Pinkhassov, 1952 ebenfalls in Moskau geboren, ist Fotograf der Pariser Agentur Magnum.
Person Von Viktor Jerofejew und Gueorgui Pinkhassov