Der letzte Sohn vom Stamm der Kru

Schwarze Seeleute in englischen Diensten ließen sich einst in Liverpool nieder. Sie waren nie willkommen. Bis heute nicht

Mannah Kwijida war ein Sohn vom Stamm der Kru. Ursprünglich stammten seine Leute aus dem Busch im Landesinneren, aber vor 500 Jahren, wir wissen nicht, warum, zogen sie an die Küste des Landes, das wir heute Liberia nennen. Weil die Kru kaum Land hatten und nur von der Fischerei lebten, waren sie dankbar, als die ersten Schiffe der Europäer im 18. Jahrhundert vor ihren Gestaden auftauchten. Die Seeleute, es waren vor allem Engländer, brauchten Arbeiter, die ihnen beim Löschen und Laden der Schiffe halfen.

Zwar heuerten die Briten nicht nur Kru an, sondern auch andere Stämme entlang der Küsten Liberias und Sierra Leones, aber im Lauf der Jahre begannen sie den Namen für alle Helfer zu verwenden, die sie an Bord holten. Crew, Kru – die Verbindung war bequem und wurde noch stärker, als die Regierung Liberias alle seefahrenden Stämme trotz ihrer verschiedenen Kulturen und Sprachen zu einem Volk der Kru erklärte. Die Afrikaner machten ihre Sache jedenfalls so gut, dass die Briten bald nicht mehr an jeder Station neue Leute anwarben und die Kru für die gesamte Reise an Bord blieben. So wie Mannah Kwijida, der sich als Heizer verdingte, zum Kohleschaufeln.

Die Weißen führten genaue Crewlisten, und jeder Afrikaner bekam ordentliche Papiere. Nur hatten die englischen Offiziere keine Geduld, sich mit den fremdartigen Namen zu befassen. Aus Mannah Kwijida wurde, es musste sich leicht schreiben lassen, George Brown. Was allerdings nicht bedeutete, dass er mit dem neuen Namen in die Gemeinschaft der Matrosen aufgenommen war. Kwijida bekam kein Quartier im Schiff, sondern lediglich einen Platz unter der Plane über Deck, die ihn vor Sonne und Regen schützte. Auch die Toiletten der englischen Mannschaft durfte er nicht benutzen; die Zimmerleute bauten den Afrikanern stattdessen Holzgestelle, die am Heck außenbords hingen. Abenteuerliche Konstruktionen waren das, und niemand hat je die Männer gezählt, die bei der Verrichtung ihres Geschäfts abgestürzt und ertrunken sind. Seefahrer auf der Westafrikaroute hatten eine zynische Bezeichnung für diese Vorrichtung: African Ensign sagten sie dazu, das afrikanische Wappen. Natürlich hätte Kwijida schon daran erkennen können, wie es ihm im Heimathafen seines Schiffes ergehen würde. Aber als Kru verdiente er seinen Unterhalt auf dem Meer. Und so fuhr er als George Brown mit den Engländern nach Liverpool.

Der Hafen am Mersey war damals eine reiche Stadt, kilometerlang zogen sich die Docks am Fluss entlang. Reeder, Banken und Kaufleute hatten im atlantischen Dreieckshandel ein Vermögen gemacht. Waffen, Textilien und Werkzeuge nach Afrika. Von dort mit Sklaven in die Neue Welt. Zurück mit Zuckerrohr, Tabak, Gewürzen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kontrollierten Kapitäne aus Liverpool 75 Prozent dieses lukrativen Geschäfts, Historiker schätzen, dass allein Schiffe vom Mersey drei Millionen Sklaven nach Amerika entführt haben.
Als der Sklavenhandel 1807 verboten wurde, hatten die Kaufleute aus Liverpool den Handel mit Westafrika fest in der Hand, und statt Menschen importierte man jetzt Palmöl, tropische Hölzer, Kautschuk und Edelmetalle.

George Brown fand nicht gleich wieder eine neue Heuer; wie viele seiner schwarzen Kollegen ließ er sich in Liverpool nieder, gleich südlich der Docks, wo die Afrikafahrer festmachten. Die meisten zogen in einfache Unterkünfte für Seeleute, und einige Reedereien, wie etwa die Elder Dempster Line, unterhielten sogar eigene Herbergen für die Kru. Der Preis der Unterkunft wurde gestundet, bis die Kru wieder ein Schiff hatten oder anderweitig Geld verdienten. Das aber, fand Brown schnell heraus, war leichter gesagt als getan. Die schwarzen Seeleute waren immer die letzten, die geheuert wurden – und die ersten, die man wieder feuerte, dafür sorgten schon die Gewerkschaften, die sich ausschließlich als Vertreter der Weißen betrachteten. Gleichzeitig musste Brown feststellen, dass die Fabriken Liverpools sich weigerten, schwarze Arbeiter einzustellen.

Es war eine feindselige Gesellschaft, die ihn und seinesgleichen in Liverpool empfing, eine zweigeteilte Stadt. In Toxteth, Brunswick und Dingle, unten am Fluss, lebten die Afrikaner, und nur da waren sie willkommen. Die Kru galten in Liverpool als alien seamen, fremde Seefahrer, geduldet zwar, aber nie akzeptiert. Nur während des Zweiten Weltkriegs, als Arbeitskräfte knapp waren, öffneten sich den Kru für kurze Zeit die Werkstore. In einer Munitionsfabrik traf George Brown seine Liz, eine weiße Frau. 1941 wurde ihr erster Sohn geboren, sie nannten ihn Walter Kenneth Brown.

Sechsundsechzig Jahre später steht ebendieser Walter Kenneth Brown in der Tür zu seinem Büro und streckt uns die Hand entgegen. Eine elegante Erscheinung, Krawatte, die Schuhe poliert, kurz geschorene, silbergraue Haare, die Haut eine Spur heller als schwarz. „Nennen Sie mich einfach Wally, das machen hier alle“, sagt er. Sein Büro: der Standard für den gehobenen öffentlichen Dienst, großer Schreibtisch, Bücherregale, separater Tisch und Stühle für Meetings. Nur die Wände erzählen eine eigene Geschichte: Hinter dem Schreibtisch liegt der strahlend blaue Dschungel eines afrikanischen Künstlers. An der Wand daneben Schwarz-Weiß-Fotos der „Drei Grazien“, der Reederei- und Versicherungspaläste am Hafen. Dann eine Marktszene aus Afrika – und gleich daneben ein vergilbtes Foto des Brixton Market, einer legendären „schwarzen“ Einkaufsstraße im Süden Londons. Dazu Ölgemälde von Schiffen und Docks sowie gerahmte Fotos der Enkel. Zwei Identitäten treffen hier aufeinander, oder anders, sie finden hier zusammen. Afrika – und der Seehafen Liverpool.


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mare No. 67

No. 67April / Mai 2008

Von Olaf Kanter und Guillaume Herbaut

Olaf Kanter, 45, war bis Ende 2007 mare-Redakteur für Wirtschaft und Wissenschaft. Er arbeitet heute im Politikressort von „Spiegel Online".

Fotograf Guillaume Herbaut, Jahrgang 1970 und Gründer des Kollektivs L'OEil Public, lebt in Paris.

Wichtige Quelle neben Brown war Friseur Ken Drysdale, der seit anderthalb Jahrzehnten einen Laden in der Granby Street hat. Weil keiner so viel Klatsch aus dem Viertel kennt wie ein Friseur, ließ Kanter sich die Haare schneiden. Drysdale erzählte - und schnitt lustlos drauf los. Kein guter Tag heute? Drysdale zeigte abschätzig auf den Hinterkopf vor ihm. „Nein, aber nennt ihr Weißen dieses dünne Zeug wirklich Haar?"

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Vita Olaf Kanter, 45, war bis Ende 2007 mare-Redakteur für Wirtschaft und Wissenschaft. Er arbeitet heute im Politikressort von „Spiegel Online".

Fotograf Guillaume Herbaut, Jahrgang 1970 und Gründer des Kollektivs L'OEil Public, lebt in Paris.

Wichtige Quelle neben Brown war Friseur Ken Drysdale, der seit anderthalb Jahrzehnten einen Laden in der Granby Street hat. Weil keiner so viel Klatsch aus dem Viertel kennt wie ein Friseur, ließ Kanter sich die Haare schneiden. Drysdale erzählte - und schnitt lustlos drauf los. Kein guter Tag heute? Drysdale zeigte abschätzig auf den Hinterkopf vor ihm. „Nein, aber nennt ihr Weißen dieses dünne Zeug wirklich Haar?"
Person Von Olaf Kanter und Guillaume Herbaut
Vita Olaf Kanter, 45, war bis Ende 2007 mare-Redakteur für Wirtschaft und Wissenschaft. Er arbeitet heute im Politikressort von „Spiegel Online".

Fotograf Guillaume Herbaut, Jahrgang 1970 und Gründer des Kollektivs L'OEil Public, lebt in Paris.

Wichtige Quelle neben Brown war Friseur Ken Drysdale, der seit anderthalb Jahrzehnten einen Laden in der Granby Street hat. Weil keiner so viel Klatsch aus dem Viertel kennt wie ein Friseur, ließ Kanter sich die Haare schneiden. Drysdale erzählte - und schnitt lustlos drauf los. Kein guter Tag heute? Drysdale zeigte abschätzig auf den Hinterkopf vor ihm. „Nein, aber nennt ihr Weißen dieses dünne Zeug wirklich Haar?"
Person Von Olaf Kanter und Guillaume Herbaut