Der letzte Krebsgang

Jahrzehnte hegte der Berliner Bauunternehmer Karsten Klingbeil die Erfüllung

Damals, sagt er, und die Stimme ist leise, als käme sie von sehr weit her, damals habe ihn die Sammlung manchmal am Leben erhalten. Damals, als sein Arbeitstag 16 Stunden hatte und nur mit Tabletten zu schaffen war. Zum Einschlafen die eine, zum Wachwerden die nächste, zum Abführen die dritte und zum Durchhalten noch ein paar andere.

92 Unternehmen, 1000 Mitarbeiter, er war der Imperator seines Imperiums. Ganz allein. Ganz oben. „Und da oben kommt ja immer nur der ganze Mist an, alles, was schiefgegangen ist.“ Die Meldung etwa, dass die Panke in Wedding über die Ufer getreten ist, die Tiefgarage eines seiner Neubauten geflutet und 17 Autos unter Wasser und Schlamm begraben hat und dass die Versicherung nicht zahlen müsse – Naturkatastrophe. Und dazu das Wissen, dass viele in Berlin ihm solche Schicksalsschläge gönnten, ja wünschten, ihm, dem „Baulöwen“, den sie für den Schuldigen dafür hielten, dass ihr geliebter Sportpalast abgerissen und von einem Sozialbaukoloss ersetzt wurde, ein Irrglaube, denn der Sportpalast war unrettbar baufällig und die Verwahrlosung des Neubaus Schuld der Behörden. Karsten Klingbeil, Chef der Klingbeil-Gruppe, dem größten Bauträger in Berlin, war ein König. Aber der König eines Reiches, das ihn an manchen Tagen killte.

Nach solchen Tagen brauchte er seine Sammlung wie ein Wüstenwanderer die Oase. Dann, meist war es schon spät am Abend, schenkte er sich ein Glas Wein ein, stieg die Treppe zum Souterrain seiner Villa hinab, knipste das Flutlicht an, setzte sich vor die wandhohen Glasschränke, die er dort hatte einbauen lassen, und betrachtete sie: Krebse. Mehr als 300. In allen Formen und Farben, die die Evolution hervorgebracht hat, rote und bunte und graue, Garnelen und Krabben und Einsiedlerkrebse und Hummer und sogar die Japanische Riesenseespinne, die größte lebende Krebsart der Erde, deren Vertreter es auf fast vier Meter Spannweite bringen.

Auch zwei präparierte Exemplare des hufeisenförmigen Pfeilschwanzkrebses Limulus gab es hinter Glas, dessen Gattung ohne nennenswerte Veränderung 400 Millionen Jahre hinter sich gebracht hat. Und dank der halben Ewigkeit, die ihn aus den drei Augen dieses lebenden Fossils anstarrte, schrumpften die Probleme des Berliner Baualltags allmählich auf das gebührende Maß. Und wenn das als Ablenkung noch nicht genügte, dann befasste er sich mit Objekten, die er noch nicht besaß, und der Frage, wie er sie bekommen könnte, den Probeebei mirabilis vielleicht, einen seltenen Einsiedlerkrebs der Tiefsee, der den Schutz des Schneckenhauses aufgegeben hat und der in seiner Sammlung noch fehlte. „Wenn ich etwas mache, mache ich es perfekt. Auf Geld habe ich nicht geguckt.“

Musste er damals auch nicht. Mehr als 150 Häuser hat seine Gruppe in den 1970er und 1980er Jahren errichtet, und da kam ganz oben nicht nur Mist an, sondern auch Money. Genügend für einen großzügigen privaten Wohnsitz am Wasser mit Antiquitäten innen und Teich mit Kois außen.

Das Telefon klingelt. Es hallt scheppernd in dem großen Atelierbüro, an dessen Wänden kein Platz mehr ist. Hohe Regale voller Aktenordner, Bücher und Büsten; daneben Ehrenurkunden, Bilder, große Fotos, eines von Tamara Danz, der Frontfrau der legendären DDR-Rockband Silly, die 1996 mit 43 Jahren an Brustkrebs starb. Der Hausherr kannte und schätzte sie. Er rollt zum Schreibtisch und nimmt den Hörer ab. „Ja?“ Die Stimme von Karsten Klingbeil klingt jetzt laut und bestimmend. Man ahnt, wenn man mit ihm telefoniert, nicht den Mann im Rollstuhl, der den Hörer in der Hand hält.

Über seinen Schreibtisch hinweg sieht man in den Garten. Da stehen Skulpturen von ihm, ein mannshohes Einhorn auf einem dreibrüstigen Frauenkörper, eine Tänzerin mit goldenem Kopfschmuck, goldener Schärpe und goldenen Turnschuhen, eine Plastik seiner Tochter, drei kleine Elefanten und eine grün oxidierte Bronzebüste, die ihn selbst zeigt. Mit Schiffermütze, Rollkragenpullover und Friesenbart hat Karsten Klingbeil sich porträtiert, mit vollem Gesicht, scharf geschnittener Nase, wachen Augen und ironischem Lächeln. Der Bart ist inzwischen weiß, schmal und schütter geworden, das Gesicht deutlich gezeichnet von 87 Lebensjahren. Die Augen aber, das Lächeln sind ihm geblieben und die Ironie, die manchmal in Sarkasmus übergeht. Besonders dann, wenn er darüber spricht, was ihn in den Rollstuhl brachte: Medizinermurks, schwere Bestrahlungsfehler, die Knochen wurden porös, die Oberschenkelköpfe auf beiden Seiten der Hüfte zerstört.

Zehn Jahre ist das her, und der Sarkasmus, mit dem er darüber spricht, hat etwas Verzweifeltes. Er ist eine Schutzwaffe gegen die Trauer über die Zerstörung seines Lebenstraums. Eigentlich wollte er immer nur das werden, das und nichts anderes: Bildhauer. Aber Bildhauerei war brotlose Kunst, die Nachkriegszeit war kein Wunschkonzert, und er war ein Mann mit Organisationstalent. Also gründete er als Student in Berlin zuerst mit ein paar Kommilitonen den Servicedienst TUSMA („Telefoniere-und-Studenten-machen-alles“), wechselte dann zum Zeitungsverkauf, organisierte schon bald den Verkauf für andere, wurde Grossist und größter Grossist in Berlin und beherzigte irgendwann den Rat seines Steuerberaters, ein Haus zu bauen, „wegen der Abschreibungen“. Daraus wurde dann ein ganzes Bauimperium.


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mare No. 92

No. 92Juni / Juli 2012

Von Peter Sandmeyer und Harf Zimmermann

Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, Ex-Stern-Reporter, heute Autor in Hamburg, ist im Zeichen des Krebses geboren und seit seinem ersten Aquarium als Schüler von jedweder Unterwasserfauna fasziniert.

Fotograf Harf Zimmermann, Jahrgang 1956, ist Gründungsmitglied des Fördervereins des Museums für Naturkunde in Berlin. Dadurch kam er in Kontakt zu privaten Sammlungen und Sammlern wie Karsten Klingbeil.

mare dankt Laura Würzberg vom Zoologischen Museum Hamburg und Gerd Fiebig von Fiebig Lehrmittel, Berlin, für die fachliche Beratung.

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Vita Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, Ex-Stern-Reporter, heute Autor in Hamburg, ist im Zeichen des Krebses geboren und seit seinem ersten Aquarium als Schüler von jedweder Unterwasserfauna fasziniert.

Fotograf Harf Zimmermann, Jahrgang 1956, ist Gründungsmitglied des Fördervereins des Museums für Naturkunde in Berlin. Dadurch kam er in Kontakt zu privaten Sammlungen und Sammlern wie Karsten Klingbeil.

mare dankt Laura Würzberg vom Zoologischen Museum Hamburg und Gerd Fiebig von Fiebig Lehrmittel, Berlin, für die fachliche Beratung.
Person Von Peter Sandmeyer und Harf Zimmermann
Vita Peter Sandmeyer, Jahrgang 1944, Ex-Stern-Reporter, heute Autor in Hamburg, ist im Zeichen des Krebses geboren und seit seinem ersten Aquarium als Schüler von jedweder Unterwasserfauna fasziniert.

Fotograf Harf Zimmermann, Jahrgang 1956, ist Gründungsmitglied des Fördervereins des Museums für Naturkunde in Berlin. Dadurch kam er in Kontakt zu privaten Sammlungen und Sammlern wie Karsten Klingbeil.

mare dankt Laura Würzberg vom Zoologischen Museum Hamburg und Gerd Fiebig von Fiebig Lehrmittel, Berlin, für die fachliche Beratung.
Person Von Peter Sandmeyer und Harf Zimmermann