Der köstliche Geschmack des Todes

Fugu alias Kugelfisch – eine Delikatesse, die für manche japanischen Feinschmecker die letzte Mahlzeit war

Ihre Tücke wurde bereits im 18. Jahrhundert weltberühmt, nachdem sie Kapitän James Cook auf einer seiner Forschungsreisen durch den Pazifik fast das Leben gekostet hätte. Gott weiß, wie viele Chinesen, Koreaner, Japaner sie mit der Verlockung ihres Fleisches seither ins Jenseits schickte, ihnen erst die Zunge, die Lippen lähmte, schließlich auch die Atemwege und ihre Opfer dann bei vollem Bewusstsein ersticken ließ. Dennoch wird sie, verbotenerweise, noch heute in so manchem Séparée exklusiver japanischer Gasthäuser auf Wunsch des Gourmets durch die blassgepuderte Hand einer Geisha feierlich stumm gereicht: die Leber des Tretaodontidae, des Kugelfisches, oder – wie er in Japan genannt wird – Fugu. Dieses Organ, das neben dem Blut, den Eierstöcken, den Eingeweiden und Augen des Kugelfisches hochgiftig ist – und je nach Konzentration tödlich wirken kann. Es hat, wie der chinesische Dichter Sotoba im Jahre 1101 schrieb, „den köstlich unwiderstehlichen Geschmack des Todes“ und gilt auch im aufgeklärten, modernen Japan zuweilen noch als ganz besondere Delikatesse.

Russisches Roulette auf Japanisch? „Aber mit fünf Patronen im Lauf statt einer“, antwortet Yoshihiro Noguchi und hebt dabei bedeutungsvoll die Augenbrauen, „das Gift ist 1000 Mal stärker als Zyankali“. Während des Gesprächs zerlegt der Fugu-Koch den noch zuckenden Fisch in bühnenreifer Geschwindigkeit. Er zieht drei Schichten der Haut ab, trennt Innereien und Gräten vom Fleisch, das – in hauchdünne Lappen geschnitten – kunstvoll auf einen farbenprächtigen Teller drapiert wird. Die ausladenden, mit goldener Glasur gezogenen Pfingstrosen auf dem Porzellan schimmern durch die kühlen, transparenten rohen Fugu-Scheiben wie im Herbstnebel hindurch. Das hochtoxische Blut wird derweil unter dem Wasserhahn abgespült. Der restliche Giftabfall, auch die Leber, landet in einem Eimer und später auf einer Fugu-Sondermülldeponie des Gesundheitsamtes.

Noguchis Präparierung eines Fisches dauert zwei bis drei Minuten. An der Wand festlich gerahmt hängt der „Waffenschein“, die Lizenz, die ihm dieses erlaubt. Seit der Meiji-Zeit ist der Verkauf von giftigen Fugu-Organen verboten. In der Nachkriegszeit wurde das – wie Noguchi es nennt – „Staatsexamen“ eingeführt, eine anderthalbstündige praktische Prüfung, die das fachkundige Anrichten des Kugelfischs attestiert. Unterdessen erzählt der 58jährige Fugu-Koch von legendären Kabuki-Tänzern und einfachen Fischern, die – sei es aus Hochmut oder Leichtsinn – dem Gift des Fugus erlagen. Zweitausend Tonnen Fugu werden alljährlich in den Spezialitätenrestaurants verspeist. 70 Menschen vergifteten sich im vergangenen Jahr, 20 starben am geruch- und farblosen Tetradotoxin – meist Opfer unkundiger Laien-Köche.

Von der Attitüde des Tokioter Geldadels, Fugu-Speisen zur kostspieligen Extravaganz zu erheben – zuweilen zahlt man über 1000 Mark für eine Portion rohen Fugufisch – hält Yoshihiro Noguchi gar nichts. Hier im „Futomasa“, auf Deutsch dem „Dicken Masa“, gibt’s das gesamte Menü bereits ab 200 Mark, für japanische Verhältnisse keine exorbitante Rechnung. Das Restaurant ist kein Palast, eher schmucklos wie die Nudelbude von nebenan. Tatamimatten, flache Tische aus Kirschholz mit eingelassenem Rechaud. Keine Stühle, Kissen. Das „Futomasa“ liegt nicht an der teuersten Meile der Welt, der Ginza von Tokio, sondern im geschäftig pochenden Herzens Osakas. Noguchis Onkel, der knapp vier Zentner schwere Fischhändler Masa Aoyagi, gründete es nach Kriegsende und nahm seinen Neffen vor 30 Jahren mit ins Geschäft. Das „Futomasa“ hat 100 Plätze und 25 Angestellte, dazu gehören ein Verkaufsstand sowie eine ebenso große Zweigstelle in einer anderen Straße. Das Stammhaus befindet sich in Nippon-bashi, inmitten eines schmuddeligen Gassenlabyrinths, umgeben von pittoresken Lebensmittelständen, dampfenden Imbißbuden, lärmenden Spielhöllen, versteckten Pornokinos.

Mag es der westjapanischen Küstenstadt für so manchen Tokioter an Noblesse und Eleganz fehlen, vom Kochen versteht man dort etwas. Über 100 Fugu-Läden stehen in Osaka, soviel wie nirgendwo anders in Japan. Ein Mekka für Fischfreunde. Hier werden keine Geishas, keine Séparées, kein Nervenkitzel mit mörderischen „Delikatessen“ geboten. „Zu uns kommen die Leute einfach, um zu essen“, sagt Yoshihiro Noguchi und zählt stolz auf: „berühmte Sumo-Kämpfer, die Stadt- und Landesväter, Firmenchefs, aber auch Hausfrauen und Familien mit Kindern.“

Der Fugu à la Carte enthält u. a. einen Haut-Salat, glasige rohe Streifen aus den verschiedenen Schichten, die in ihrer gummiartigen Beschaffenheit an Kutteln erinnern. „Sashimi“, die rohen Fischscheibchen, taucht man vor Verzehr in eine kalte Sauce aus Soja und Limonellen, das Fisch-Fondue „Nabe“ wird am Tisch zubereitet. Über der Gasflamme brodelt eine Brühe aus Seetang und getrockneten Fischspänen. Tofuwürfel, mundgerecht zugeschnittene Chinakohl- und Porree- Stücke werden hinzugefügt, grobe Fischbrocken durch den Sud geschwenkt und in die säuerliche Tunke gehalten. Weitere Spezialitäten sind die gebackene Milch des männlichen Fugus (ausschließlich ein Dezember-Gericht). „Koragen“, das eiweißreiche Häutchen zwischen Fleisch und Knochen in Reissuppe, gegrilltes und paniertes Fugu-Fleisch. Gebratene Rückenflossen werden derweilen dem Reiswein als apartes Gewürz beigelegt.

Abends, um 22 Uhr, steht Noguchi am Faxgerät. Fischbestellungen für den folgenden Tag gehen ins südjapanische Shimonoseki, wo morgens um drei der größte Fugu-Markt des Landes stattfindet. Je nach Saison kostet ein anderthalb Kilogramm schwerer Kugelfisch zwischen 100 und 200 Mark. Noguchi rechnet nach: 600 Gäste waren es heute gewesen. Er bestellt 300 Fische. Die lebenden Tiere kommen am nächsten Morgen mit der ersten Maschine nach Osaka. Business as usual.

Auf dem Tresen zwischen den Haut-Salaten steht ein verstaubter Fugu-Fisch. Wie per Schnappschuß festgehalten, erregt aufgeblasen. Die Augen starren grimmig. Aus dem aufgerissenen Maul ragen messerscharfe Zähne. Wer weiß schon, dass er einst ein prächtiger Korallenfisch war, der wie bei der Blende einer Kamera die Augen schließen konnte, meisterhaft rückwärts schwamm und die Sommer verschlief.


Die Redaktion übernimmt keine Verantwortung:

Futomasa
Sennichimae 2-7-18, Chuo-Ku, Osaka
Telefon: 0081/0/033 41 29
Täglich geöffnet von 11 bis 22 Uhr

mare No. 5

No. 5Dezember / Januar 1997

Von Myrte Müller und Kai Sawabe

Myrte Müller war von 1992 bis 2000 Korrespondentin deutscher Zeitungen in Japan. Heute arbeitet sie für die Schweizer Tageszeitung Blick und lebt im Kanton Tessin.

Kai Sawabe, geboren 1955, lebt seit 40 Jahren in Deutschland (Berlin), Italien und Frankreich. Veröffentlichungen in europäischen und japanischen Magazinen, Büchern und Ausstellungen. Momentaner Schwerpunkt: die Menschen, die hinter der Kulisse leben.

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Vita Myrte Müller war von 1992 bis 2000 Korrespondentin deutscher Zeitungen in Japan. Heute arbeitet sie für die Schweizer Tageszeitung Blick und lebt im Kanton Tessin.

Kai Sawabe, geboren 1955, lebt seit 40 Jahren in Deutschland (Berlin), Italien und Frankreich. Veröffentlichungen in europäischen und japanischen Magazinen, Büchern und Ausstellungen. Momentaner Schwerpunkt: die Menschen, die hinter der Kulisse leben.
Person Von Myrte Müller und Kai Sawabe
Vita Myrte Müller war von 1992 bis 2000 Korrespondentin deutscher Zeitungen in Japan. Heute arbeitet sie für die Schweizer Tageszeitung Blick und lebt im Kanton Tessin.

Kai Sawabe, geboren 1955, lebt seit 40 Jahren in Deutschland (Berlin), Italien und Frankreich. Veröffentlichungen in europäischen und japanischen Magazinen, Büchern und Ausstellungen. Momentaner Schwerpunkt: die Menschen, die hinter der Kulisse leben.
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