Der korsische Traum

Auf Cap Corse im Norden der Insel verwundert die rätselhafte Häufung eleganter Villen aus dem 19. Jahrhundert. Sie sind das Erbe früherer Amerikaheimkehrer. Beredt erzählen die Maisons d’Américains von Korsikas Schicksalsjahren – bis heute

o liegt das Glück? Kann man es suchen? Und wenn man es gefunden hat, wie lange bleibt es? Welche Geschichten erzählt es? Welche verschweigt es? Was macht es mit jenen, die es erleben? Und denen, die es erben? Davon handelt diese Geschichte. 

Sie erzählt vom Verlassen der Heimat und der Sehnsucht nach einem besseren Leben. Vom Feilen an Träumen und am eigenen Ruhm. Vom Errichten von Häusern, vom Heimkehren und von Vermächtnissen. Aber eins nach dem anderen. Oder besser: einer nach dem anderen. Denn so brachen sie auf. Damals. Von Cap Corse, jener Landzunge, die aus Korsikas Norden wie ein emporgereckter Daumen ragt.

Pierre-Marie Nicrosi ist 15, als er ein Schiff nach Amerika besteigt. Es ist das Jahr 1852. Der Junge kommt aus Rogliano, aus einem Nest in den Bergen im Norden des Caps. Englisch spricht er nicht, selbst kaum Französisch, bloß Korsisch. Aber er hat ein Ziel: Alabama. 

Auch in Mandriale weiter im Süden brechen in diesen Jahren junge Männer auf: Ein Cagninacci-Bruder nach dem an­de­ren verlässt sein Dorf in den Bergen. Der fünfte bleibt, um den Militärdienst abzuleisten – nicht nur für sich, auch für die anderen. Die restlichen vier stür­zen sich ins Abenteuer. Ihr Ziel: Venezuela. 

In Sisco, einer weiteren Gemeinde auf Cap Corse, macht sich 1856 Pierre-Toussaint Vivoni auf den Weg. Er ist 16 und will zu seinem Onkel nach Puerto Rico. Doch schon kurz hinter Gibraltar gerät das Schiff, auf dem er unterwegs ist, in einen Sturm. Pierre-Toussaint bangt um sein Leben. Aber er kommt heil an. Immerhin. Ein Cousin, der vor ihm aufgebrochen war, starb auf dem Weg an Cholera. 

Keiner der jungen Männer weiß zu diesem Zeitpunkt, was die Zukunft bringen wird. Sie folgen einem Ruf aus der Ferne und den Geschichten, die man in ihren Dörfern erzählt – von ihren Landsmännern, qui ont fait fortune, die ein Vermögen gemacht hatten in der Neuen Welt.

Denn Pierre-Marie, die Cagninacci-Brüder und Pierre-Toussaint sind nicht die Einzigen, die fortgingen, und auch nicht die Ersten: Schätzungsweise 4000 Korsen verließen zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert die Insel, um ihr Glück in Amerika zu versuchen. Die meisten kehrten nie zurück. Einige wenige jedoch veränderten das Antlitz des Cap Corse bis heute: Sie ließen in ihren Heimatdörfern herrschaftliche Villen errichten, Manifestationen ihres Erfolgs, die vieles über Korsika erzählen – und die Träume, die man dort ersann. 

Eine Allee aus Platanen führt zur „Maison d’Américains“ von Paul Saladini. „Häuser der Amerikaner“, so werden sie bis heute genannt. Dieses sieht man schon von Weitem: Stolz ragt es an einem Berghang aus der Macchia, dem Buschland, das Korsika überzieht wie ein geheimnisvoller Mantel. Alles an dem Bau strahlt Anmut aus, Würde, Erhabenheit – kein Vergleich zu den traditionellen Häusern aus rohem Stein, die in vielen korsischen Weilern stehen. Über der Eingangstür prangen in goldener Schrift die Initialen des Erbauers, längs des Hauses ein Säulenportikus mit Hufeisentreppe, davor eine Gartenterrasse mit Blick auf das Tal, den Hafen von Macinaggio, das Meer.

„Es ist das Haus meines Ururgroß­onkels“, erzählt Paul Saladini, Eigentümer in fünfter Generation. Er kennt die Geschichten des Auswanderers von seiner Großtante und aus den Briefen, die jener schrieb. Sein Name: Pierre-Marie Nicrosi. Weil seine Eltern die Überfahrt nach Amerika damals nicht bezahlen konnten, heuerte er auf einem Schiff als Matrose an. Kaum angekommen in New York, schlug er sich nach Montgomery, Alabama, durch. Drei Monate war er unterwegs, bis er Mathieu Strenna erreichte, jenen Freund der Familie, der ihn nach Amerika gerufen hatte. Ein Porträt des Paten seines Glücks hängt bis heute im Speisesaal. 

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mare No. 152

mare No. 152Juni / Juli 2022

Von Andrea Walter und Mathias Bothor

Andrea Walter, Jahrgang 1976, Autorin in Berlin, ­arbeitete lange daran, dass die geheimnisvollen korsischen Schlösser sich öffneten und die Bewohner ­deren Geschichten erzählten. Bei den Recherchen musste sie an einen Satz William Faulkners denken: „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.“ In den Häusern lebt sie weiter.

Mathias Bothor, geboren 1962, ist freier Fotograf in Berlin. Als der Bürgermeister von Sisco die Reporter versetzt hatte, sprach er mit Andrea Walter über the art of hanging around. 20 Minuten später hielt ein ­Wagen neben ihnen. Es war der Bürgermeister.

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Vita Andrea Walter, Jahrgang 1976, Autorin in Berlin, ­arbeitete lange daran, dass die geheimnisvollen korsischen Schlösser sich öffneten und die Bewohner ­deren Geschichten erzählten. Bei den Recherchen musste sie an einen Satz William Faulkners denken: „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.“ In den Häusern lebt sie weiter.

Mathias Bothor, geboren 1962, ist freier Fotograf in Berlin. Als der Bürgermeister von Sisco die Reporter versetzt hatte, sprach er mit Andrea Walter über the art of hanging around. 20 Minuten später hielt ein ­Wagen neben ihnen. Es war der Bürgermeister.
Person Von Andrea Walter und Mathias Bothor
Vita Andrea Walter, Jahrgang 1976, Autorin in Berlin, ­arbeitete lange daran, dass die geheimnisvollen korsischen Schlösser sich öffneten und die Bewohner ­deren Geschichten erzählten. Bei den Recherchen musste sie an einen Satz William Faulkners denken: „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen.“ In den Häusern lebt sie weiter.

Mathias Bothor, geboren 1962, ist freier Fotograf in Berlin. Als der Bürgermeister von Sisco die Reporter versetzt hatte, sprach er mit Andrea Walter über the art of hanging around. 20 Minuten später hielt ein ­Wagen neben ihnen. Es war der Bürgermeister.
Person Von Andrea Walter und Mathias Bothor