Sie warteten im Dunkeln, hinter verschlossenen Läden und verriegelten Toren. Sie waren gewarnt. Sie kannten die Erzählungen von Überfällen auf Glaubensgenossen in den Dörfern. Bauern hatten bei den Juden Kredite für Saat aufgenommen. Doch die Jahre der Dürre wollten nicht enden, die Schulden häuften sich. Ernten verdorrten, Männer, Frauen, Kinder, das Vieh litten unter Durst und Hunger. Mallorca lag seit der Schwarzen Pest in langer Agonie. Es war der 2. August 1391, einer der heißesten Tage des Jahres. Es war der Tag, an dem Mallorcas Bauern sich ihrer Gläubiger entledigen, sie um ihr Überleben kämpfen wollten. Es war der Tag des großen Überfalls auf den Call, das Judenviertel der Hauptstadt.
Einige beteten. Andere versteckten Geld, Bücher, Erbstücke. Jafuda (auch Jehuda oder Judah) Cresques hatte sein stattliches Haus bereits verlassen. Der etwa 40-jährige Kartenmaler und seine Familie waren hinter die Mauern des Almudaina-Palasts in Sicherheit gebracht worden, zusammen mit anderen auserwählten Kartografen, Kaufleuten, Geldverleihern. Cresques und seine Familie standen unter dem Schutz König Johanns I. von Aragonien, der von 1387 bis 1396 regierte. Er war am Ende des 14. Jahrhunderts Erbe des größten Reiches am Mittelmeer.
Von Saragossa und Barcelona aus herrschte er über ein Imperium, in dem neun Sprachen gesprochen wurden und das sich über 250 000 Quadratkilometer erstreckte. Er herrschte über 300 000 Menschen, in den heute spanischen Regionen Aragonien, Katalonien, Valencia und Mallorca, aber auch auf Kosika, Sardinien, Sizilien, in Neapel und kurze Zeit auch in Athen und im Herzogtum Neopatria (in der heute griechischen Region Fthiotida).
Johann I. brauchte manche Juden von Mallorca, besonders die Kartografen. Jafuda Cresques überlebte den Überfall auf sein Viertel, weil er etwas gut konnte wie keiner sonst: Karten malen. Fantastisch ausgeschmückte Weltkarten, Mapamundi genannt, sowie erstmals maßstabsgetreue gezeichnete Seefahrtskarten, die Portulankarten, reisten von seiner Werkstatt im Ghetto hinaus in die Welt.
Portulankarten zeigten das Mittelmeer in seiner wirklichen Ausdehnung. Sie waren nach Norden hin ausgerichtet, eine Windrose verwies auf die acht Winde sowie alle 32 Windrichtungen. Häfen, Untiefen, Strömungen, Städte und Küstenverlauf waren realistisch eingezeichnet. Hatten die Handelskapitäne und Soldaten des Königs die cartes portolanes der mallorquinischen Kartenmalschule an Bord und konnten sie mit Kompass, Sternhöhenmesser, Nachtweiser und Stundenglas umgehen, dann war es ihnen erstmals möglich, Routen und Fahrtzeiten zu berechnen und so sicher und pünktlich ans Ziel zu gelangen. Mallorquiner Portulankarten halfen, die wirtschaftliche und geopolitische Macht der Krone von Aragonien im Mittelmeer auszubauen. Sie hatten strategischen Wert. Rund 50 von ihnen sind heute noch erhalten.
Jafuda Cresques zeigte die bekannte Welt so, wie Seefahrer sie ihm beschrieben hatten, und die unbekannte Welt so, wie er sie sich vorstellte, wie er, sein Vater Abraham und ihre Mitarbeiter in der Werkstatt im Call sie sich vorstellten. Denn mit eigenen Augen gesehen hatten sie nichts von Europa jenseits ihrer Insel, auch nichts von Afrika, nichts von Indien oder China, Regionen, die sie beim Schein von Talglichtern auf gegerbte Tierhäute malten.
Das Leben der „Kompassjuden“ von Mallorca, wie die Cresques in Europa genannt wurden, verlief hinter verschlossenen Türen, in wenigen engen Gassen. Ausgang erhielten nur jene, die einen triftigen Grund vorzuweisen hatten, Behörden- und Geschäftstermine oder bezeugte Botengänge. Die Kartografen lebten mit rund 3000 anderen Juden in einem Viertel mit eigener Verwaltung, eigenem Steuersystem, eigener Religion, Sprache und Bräuchen. Sie verbrachten ihr Leben im Herzen von Ciutat de Mallorca, wie Palma damals hieß. Sie lebten wenige Meter entfernt von einem der wichtigsten Mittelmeerhäfen, zwischen dem Königspalast, christlichen Kirchen und einer ewigen Baustelle, der Kathedrale.
Ein Schiff betrat Jafuda vermutlich erstmals, als er Mallorca nach dem Überfall vom Sommer 1391 in Richtung Barcelona verließ – als zwangsgetaufter Christ mit neuer Identität. Sein Vater, im ganzen Reich bekannter Kompassbauer, Uhrmacher, Übersetzer, Miniaturen- und Buchmaler sowie europaweit bekannter Kartografenmeister, war vier Jahre zuvor gestorben, wohl ohne die Insel jemals verlassen zu haben. Von ihm hatte Jafuda die Kunst erlernt, die ihm das Leben rettete.
Der beste Beweis dafür liegt in der Französischen Nationalbibliothek und wurde erst 1804 entdeckt: der Katalanische Atlas, das Meisterstück von Vater und Sohn Cresques. Er ist der älteste erhaltene Weltatlas. Das zwölfteilige Opus magnum entstand innerhalb von zwei Jahren und wurde 1375 zu seinem Auftraggeber Johann I., damals noch Kronprinz von Aragonien, nach Barcelona verschickt. Der verschenkte die Mapamundi sechs Jahre später an seinen zwölfjährigen Cousin, den frisch gekrönten König Karl VI. von Frankreich. Am Hof staunte man über die Ornamentierung der zwölf bemalten Tierhäute, die auf sechs 65 mal 50 Zentimeter große Holztafeln gezogen sind. Die Cresques hatten nicht an Blattgold, Grüner Erde, Zinnober und Azurblau gespart. Das edle Geschenk stärkte die Bande zwischen den Königshäusern und brachte den „Kompassjuden“ die enorme Summe von 150 aragonesischen Florines aus Gold ein, vierzigmal mehr, als eine gewöhnliche Seefahrtskarte kostete.
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Brigitte Kramer lebt seit neun Jahren auf Mallorca. In Palma parkt sie gelegentlich im Carrer de Jafuda Cresques. Früher musste sie öfter im Stadtplan nach ihrem Auto in dieser Straße mit dem unaussprechlichen Namen suchen. Nach den Recherchen zum Leben des Kartenmalers ist ihr die Straße wohlvertraut.
Vita | Brigitte Kramer lebt seit neun Jahren auf Mallorca. In Palma parkt sie gelegentlich im Carrer de Jafuda Cresques. Früher musste sie öfter im Stadtplan nach ihrem Auto in dieser Straße mit dem unaussprechlichen Namen suchen. Nach den Recherchen zum Leben des Kartenmalers ist ihr die Straße wohlvertraut. |
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Person | Von Brigitte Kramer |
Vita | Brigitte Kramer lebt seit neun Jahren auf Mallorca. In Palma parkt sie gelegentlich im Carrer de Jafuda Cresques. Früher musste sie öfter im Stadtplan nach ihrem Auto in dieser Straße mit dem unaussprechlichen Namen suchen. Nach den Recherchen zum Leben des Kartenmalers ist ihr die Straße wohlvertraut. |
Person | Von Brigitte Kramer |