„Der Kanal ist nie freundlich zu dir"

Schwimmen von Dover nach Calais und zurück: Porträt einer exklusiven Sportart

Möwen kreischen, das Signalhorn einer Fähre ertönt. Gerade bricht die Sonne durch die Wolken und beleuchtet die Klippen von Dover, jenes eigenwillige Felsmassiv, das wie eine weiße Mauer hinter der Stadtkulisse aufragt und Generationen von Seefahrern als Orientierungspunkt diente. Ein Pärchen bleibt an der Hafenmauer stehen. Mit dem Finger deutet der Mann auf einen winzigen Punkt im grauen, zwölf Grad kalten Wasser: ein Kanalschwimmer beim Training. „Da würde mich keiner reinkriegen“, sagt er zu seiner Begleiterin. Beim Weitergehen dreht er sich einige Male um, als könnte er seinen eigenen Augen nicht trauen.

Mit Ausnahme der Himalaya-Riesen hat kaum eine irdische Herausforderung die Phantasie der Menschen so bewegt wie die Überwindung des Ärmelkanals. Die Engländer sagen „channel“, bei den Franzosen heißt er „mange“, im Atlas steht „Straße von Dover“. Der Kanal war Spielplatz der Wikinger und Friedhof der spanischen Armada. Laut Lloyd’s of London sind in ihm mehr Schiffe gesunken als in jedem anderen vergleichbaren Gewässer. Ein Tiefdruckgebiet jagt das nächste, und die Chance, dass drei Tage hintereinander gutes Wetter herrscht, steht 1 zu 50.

Allein das Training für eine Kanalüberquerung ist eine gewaltige Sache. „Wer nach Dover kommt, hat sich mindestens ein Jahr intensiv vorbereitet. Wenn er dann das erste Mal ins Wasser geht, bleibt ihm fast das Herz stehen“, sagt Freda Streeter, eine erfahrene Langstreckentrainerin, bekannt als die Mutter aller Kanalschwimmer. Freda steht an jedem Sommerwochenende am Kieselsteinstrand von Dover Harbour und kümmert sich um die, die mit nichts als Badehose und Schwimmbrille am Körper das europäische Festland erreichen und Mitglied in einem der exklusivsten Clubs der Welt werden wollen. Schließlich haben mehr Menschen den Mount Everest bestiegen als den Ärmelkanal durchschwommen.

Ihr Training ist kostenlos – „das Erlebnis Kanal ist die Bezahlung.“ Sie möchte allen helfen, das große Ziel zu erreichen, und predigt unermüdlich die drei ewigen Wahrheiten des Kanalschwimmens: „Erstens: Der Kanal ist niemals freundlich zu Dir. Zweitens: Nie geht irgend etwas nach Plan. Drittens: Du wirst unterwegs furchtbar leiden, so leiden wie nie zuvor in deinem Leben.“ Man muss nur ihre Tochter Alison fragen, ein 1 Meter 60 kleines Pummelchen, die die Rekordzahl von 36 Kanalüberquerungen auf ihrem Konto hat. Sie darf sich „Queen of the Channel“ nennen. Der Kanal ist englisch, und eine Engländerin sollte den Rekord halten – das, sagt sie, sei ihre Motivation. Als bisher einzige Frau wagte sie sich erfolgreich an eine Dreifachüberquerung, England– Frankreich–England–Frankreich nonstop in knapp 40 Stunden. Nonstop bedeutet, dass zwischen Erreichen der Küste und Rückkehr ins Wasser nicht mehr als zehn Minuten vergehen dürfen. In dieser Zeit darf der Schwimmer von niemandem berührt werden, etwa, um sich massieren zu lassen. Sofortige Disqualifikation wäre die Folge.

Wie ist das, wenn man eine Seereise von 40 Stunden unter eigenem Dampf bestreitet? „Na ja, eine Stunde nach dem Start fangen Schulter und Nacken an weh zu tun. Das geht dann die ganze Strecke so.“ Ihr Körper arbeitete wie ein Dynamo, mit irrsinniger Gleichmäßigkeit, Stunde um Stunde, nur unterbrochen durch die sekundenschnelle Nahrungsaufnahme. Ungefähr 200000mal wiederholten sich ihre kräftigen, langen Kraulschläge, bis Arme, Handgelenke und Knöchel so stark angeschwollen und die Sehnen so gezerrt waren, dass jede Bewegung höllisch schmerzte. Was gibt einem Menschen die Willenskraft, unvorstellbare Strapazen dieser Art durchzuhalten? Fragen, die ihr oft gestellt werden und auf die sie nur eine Antwort weiß: „I love the channel.“

Im Hauptberuf ist Alison Devisenhändlerin einer Londoner Bank. An jedem Arbeitstag setzt sie rund 600 Millionen Dollar um. Auch im Wasser dreht sich bei ihr vieles ums Geld. Jeden Kilometer, den sie schwimmt, verkauft sie an Sponsoren. Das zusammengeschwommene Geld, bisher über eine Million Pfund, spendet sie karitativen Einrichtungen.

An diesem Samstagmorgen drehen sieben Schützlinge von Freda Streeter im Hafenbecken ihre Runden, alles Hobbyschwimmer, die viel Geld, Zeit und Kraft investieren und extrem unangenehme Lebensumstände in Kauf nehmen. Es gibt ja so viele, die in ihren Berufen nicht gefordert werden, die glauben, dass mehr in ihnen steckt. Sie suchen nach einem Weg, dies unter Beweis zu stellen. Amerikaner, Neuseeländer, mehrere Briten. Auch ein Mexikaner, Rafael, 28 Jahre alt, der aussieht wie ein Wesen vom anderen Stern. Jeder Zentimeter seiner vom warmen Pazifikwasser verwöhnten Haut ist mit einer weißen, fettigen Masse beschmiert, die seine Poren schließen und ihn vor zu schnellem Wärmeverlust schützen soll. Gleich wird ihn die Trainerin ins Wasser beordern, sechs Stunden am Stück und keine Minute weniger. Seit vor einigen Jahren eine Brasilianerin während einer Kanalüberquerung an Unterkühlung gestorben ist, wird von Schwimmern aus wärmeren Ländern ein sechsstündiger Kaltwassertest verlangt, bevor sie eine Startgenehmigung erhalten.

Daheim in Acapulco arbeitet Rafael in einem Hotel. Jeden Peso und jeden Dollar Trinkgeld hat er auf die Seite gelegt, um sich seinen großen Traum zu erfüllen. „Meine Jugend habe ich am Strand verbracht. Stundenlang saß ich manchmal auf meinem Badetuch und hab aufs Meer geschaut. Irgendwas an dieser offenen Weite war sehr einladend und zog mich an. So wurde ich Marathonschwimmer.“

Es gibt zwei Arten von Marathonschwimmern. In den letzten Jahren ist eine Gruppe von Eliteschwimmern herangewachsen, die die Leistungsfähigkeit des Menschen auf die äußerste Zerreißprobe stellen und bewiesen haben, dass man sich nicht nur hundert oder zweihundert Kilometer über Wasser halten, sondern solche Strecken sogar im Wettkampftempo bewältigen kann. Die an eine Atlantik-Überquerung denken und fest davon überzeugt sind, dass dies bei entsprechender Vorbereitungszeit (zehn Jahre) möglich ist. Die an Wettbewerben teilnehmen – „Rund um Manhattan“, „Bosporus“, „Lake Ontario“ – und ähnlich wie Tennis-Profis um Prämien und um Platz 1 in der Computer-Rangliste kämpfen. Und dann gibt es jene, die einfach nur sich selbst testen und etwas ganz Außergewöhnliches tun wollen – just for fun. Aber ob Profi oder Amateur, irgendwann wird jeder mit der Frage konfrontiert: Hast du den Kanal gemacht? Bei der letzten Zählung waren es 516, über 6000 sind gescheitert, wie viele dabei ums Leben kamen, weiß niemand genau.

Allein im Jahr 1998 hatten sich rund hundert Kandidaten bei der „Channel Swimming Association“ angemeldet, einer Art Kontrollbehörde für den Menschenverkehr über den Kanal. Jeder fünfte gibt unterwegs wegen Kälte auf. Meist sind es Männer. Seltener treibt die Kälte Frauen aus dem Wasser, denn sie besitzen wesentlich mehr Körperfett und sind deshalb besser geschützt – jeder Millimeter erhöht die gefühlte Wassertemperatur um 1,5 Grad. Fett wirkt wie eine Schwimmweste und ist das beste Bollwerk gegen Unterkühlung.

Das im Körper zirkulierende Blut teilt sich in peripheres, das in Bahnen nahe der Haut verläuft, und jenes in den lebenswichtigen Organen. Erst wenn das periphere Blut nach Stunden im Wasser erkaltet ist, in die Organe dringt und das dortige Blut ebenfalls abkühlt, fängt der Schwimmer an zu zittern. Das Zittern hört bei etwa 31 Grad Körpertemperatur auf. Dann versteifen sich seine Muskeln, und er droht zu ertrinken. Sind sämtliche wärmeerzeugenden Reserven verbraucht, wird er ohnmächtig. Die Amerikaner haben dafür die 50:50:50-Formel geprägt: In 50 Grad Fahrenheit kaltem Wasser sind 50 Prozent aller Schwimmer in 50 Minuten tot. 50 Grad Fahrenheit entsprechen zehn Grad Celsius.

Kanalschwimmer müssen die Unterkühlung des Körpers solange wie möglich hinauszögern. Manche packen sich abends die Badewanne voller Eisstücke und legen sich zum Akklimatisieren hinein. Die Pensionen in Dover kennen das schon. So hat’s der Neuseeländer Phil Rush 1988 vor seiner Dreifachüberquerung gemacht (er errang mit seinen 28 Stunden, 21 Minuten den Rekord). Trotzdem wäre die Sache beinahe schiefgegangen: Als man ihm auf dem Begleitboot hinterher das Thermometer aus dem Mund nahm, berührte die Quecksilbersäule die 31-Grad-Marke. Bei 30 Grad ist der Mensch gewöhnlich tot. Bevor der Neuseeländer in Tiefschlaf fiel, stammelte er: „Die 28 Stunden waren nicht so schlimm, aber, oh, die letzten 21 Minuten…“


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mare No. 12

No. 12Februar / März 1999

Von Rolf Kunkel

Rolf Kunkel, Jahrgang 1940, lebt als freier Journalist in der Nähe von Hamburg. Von 1955 bis 1961 fuhr er zur See. 1979 erhielt er den Theodor-Wolff-, 1979 den Kisch-Preis. In mare schrieb er zuletzt über die Rekordjagd beim Tieftauchen ohne Atemgerät (in No. 5)

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Vita Rolf Kunkel, Jahrgang 1940, lebt als freier Journalist in der Nähe von Hamburg. Von 1955 bis 1961 fuhr er zur See. 1979 erhielt er den Theodor-Wolff-, 1979 den Kisch-Preis. In mare schrieb er zuletzt über die Rekordjagd beim Tieftauchen ohne Atemgerät (in No. 5)
Person Von Rolf Kunkel
Vita Rolf Kunkel, Jahrgang 1940, lebt als freier Journalist in der Nähe von Hamburg. Von 1955 bis 1961 fuhr er zur See. 1979 erhielt er den Theodor-Wolff-, 1979 den Kisch-Preis. In mare schrieb er zuletzt über die Rekordjagd beim Tieftauchen ohne Atemgerät (in No. 5)
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