Kinder, zieht Euch warm an und lauft nicht so weit raus! Zwar klettert das Thermometer an einem warmen Hochsommertag zur Weihnachtszeit in die Nähe des Gefrierpunkts, aber wenn ein Polarsturm mit über 200 Kilometern pro Stunde den Kindergarten zum Vibrieren bringt, ist es draußen mehr als ungemütlich.
Die 20 Kinder der chilenischen Antarktissiedlung Villa Las Estrellas - „Die Sterne" - teilen sich hinter der Turnhalle eine chilenische Freifläche, die viermal so groß ist wie Deutschland. Die verschneite Weite taugt allerdings nur bedingt zum Spielplatz: Packeis, Kälte bis 89 Grad unter Null und die schwersten Stürme unserer Erde isolieren die Luftwaffenbasis „Presidente Frei" und die angegliederte Siedlung über die langen Wintermonate von April bis September. Kinder wie Eltern können dann kaum noch ihre Häuser verlassen.
Dennoch ist der Regierung Chiles dieses „Bevölkerungsmodell" sehr wichtig. Die Besiedlung der Einöde soll präventiv gegen juristische Probleme wirken: Nur im eigenen Hoheitsraum kann sich ein Staat wirksam gegen Eingriffe von außen wehren, etwa gegen die Überfischung der antarktischen Gewässer durch internationale Fangflotten. Mit seiner im Jahr 2000 bekräftigten „nationalen Antarktispolitik" will Chile nun einer „Bedrohung durch mögliche Konflikte zwischen den Antarktisstaaten" vorbeugen.
Der frühere Stationskommandant von „Presidente Frei", Coronel Federico Klock, erklärt die Siedlung auf der antarktischen König-Georg-Insel so: „Wir untermauern damit unsere Souveränität, damit wir eines Tages, wenn das Land aufgeteilt wird, sagen können: ,Wir haben Leute dort wohnen, und es gibt Chilenen, die in der Antarktis geboren wurden.'"
Über einen großen Teil der von Chile reklamierten 1250000 Quadratkilometer zwischen Südpol und dem 60. Breitengrad streitet die Regierung mit Argentinien fast wie die Kinder im Sandkasten:
- „Villa Las Estrellas ist das einzige Dorf des Kontinents, in dem ständig Familien mit Kindern leben!"
- „Stimmt nicht! Argentinien hat in seiner Siedlung Esperanza genauso viele Familien und Kinder!"
- „Villa Las Estrellas wurde schon 1984 gegründet!"
- „Esperanza schon 1978, und außerdem betreiben wir den einzigen Radiosender des weißen Kontinents!"
- „Aber keine Forschungsstation hat ein so hohes Niveau wie die von Chile!"
- „Argentinien hat schon am 18. Februar 1976 die erste katholische Antarktis-Kapelle eröffnet, unter dem Schutz des Heiligen Francisco von Assisi!"
- „Aber Chile hat seine Territorialgrenzen 1940 klar abgesteckt!"
- „Die heldenhafte Besatzung der argentinischen Korvette ‚Uruguay' erreichte die antarktische Halbinsel bereits 1903!"
Und der Walfang und die Spanier und so weiter. Im Kanon der offiziellen Argumente um die „Provinz Chilenische Antarktis" und die argentinische „Provinz Feuerland, Antarktis und Atlantische Inseln" grüßen dann noch die britischen Polar-Anrainer von den Falkland-Inseln. Denn auch London reklamiert in Teilen das gleiche Territorium für sich.
Der Antarktisvertrag von 1959/61 bildet die Grundlage für die friedliche und wissenschaftliche Nutzung der Antarktis. Ihm sind mittlerweile 44 Nationen beigetreten, von denen sieben auch Hoheitsansprüche auf Teile des Kontinents stellen. Die große Mehrheit der Vertragsstaaten unterstützt hingegen den Vorschlag, die Antarktis unter die Verwaltung der Vereinten Nationen zu stellen. Selbst die USA stimmen für die Unabhängigkeit der Polarregion. Das Vertragswerk setzt sich aber ausdrücklich nicht über vor 1959 erhobene Souveränitätsansprüche hinweg. Und völkerrechtlich ist die Besiedlung staatenlosen Landes eine Möglichkeit, solche Ansprüche geltend zu machen.
Was nun? Regeln für die Erschließung der Antarktis und eine gerechtere Verteilung der wirtschaftlich nutzbaren Ressourcen rücken in den Mittelpunkt der völkerrechtlichen Diskussion. Angesichts der wohl immensen Öl-, Gas- und Erzvorkommen unter dem Eis war deshalb das Antarktis-Umweltprotokoll von 1991 ein wichtiger Schritt. Es soll für die nächsten 50 Jahre eine unkontrollierte Ausbeutung der Bodenschätze und die resultierende Bedrohung für das Ökosystem verhindern sowie Grenzstreitigkeiten entschärfen.
Und die Kinder? Die chilenische Luftwaffe schreibt, die Antarktiskinder seien glücklich. Sie liebten es, im Schnee zu spielen, mehr noch: „Sie sind wie Pinguine!" Und gelegentlich stöbern sie nach alten Armeemützen auf der nahen russischen Basis. Sie freuen sich, wenn der Postbote mit der Hercules C-130 landet oder sie Nachrichten im Internet erhalten. Ein einzigartiges Kinderleben.
Dieses lässt sich auch der Leiter des staatlichen Antarktis-Instituts in Santiago, Oscar Pinochet de la Barra, nicht nehmen: „Die Besiedlung mit Kindern ist legitime Politik der chilenischen Regierung." Womöglich hat er Recht. Aber die Kinder von Las Estrellas und Esperanza hat natürlich niemand gefragt, ob sie im Gerangel um Hoheitsrechte, Bodenschätze und Fischgründe für Jahre in die Kälte wollen.
Peter Korneffel ist in Münster in Westfalen geboren. Er ist gelernter Medienpädadoge und Kabarettist, ausgebildet in Schauspiel, Regie und Text. Er arbeitete zunächst als Jugendzentrumsleiter im Ruhrgebiet und tourte dann mehrere Jahre als politischer Solokabarettist vornehmlich durch Nordrhein-Westfalen und Berlin. 1993 bereiste er erstmals Ecuador und ging im Folgejahr als Journalist und freier Korrespondent verschiedener deutscher Medien nach Südamerika. Er arbeitet seither als Auslandsreporter, als Reisebuchautor, als Leiter von ZEIT Leserreisen, als Vortragender, als Fernsehkritiker und Kurator. Nach vierzehn Jahren mit Auslandsbüros in Ecuador, Kolumbien und Spanien wechselte Peter Korneffel 2008 nach Berlin. Von seinem Büro in Kreuzberg aus reist er nun weltweit zu Reportagen oder taucht ein in die Kulturgeschichte Berlins. In der Hauptstadt schreibt er den Kultur- und Szeneführer über die Biermanufakturen in Berlin und das Doppelportrait Die Humboldts in Berlin. Illustration: Frank Nikol
Vita | Peter Korneffel ist in Münster in Westfalen geboren. Er ist gelernter Medienpädadoge und Kabarettist, ausgebildet in Schauspiel, Regie und Text. Er arbeitete zunächst als Jugendzentrumsleiter im Ruhrgebiet und tourte dann mehrere Jahre als politischer Solokabarettist vornehmlich durch Nordrhein-Westfalen und Berlin. 1993 bereiste er erstmals Ecuador und ging im Folgejahr als Journalist und freier Korrespondent verschiedener deutscher Medien nach Südamerika. Er arbeitet seither als Auslandsreporter, als Reisebuchautor, als Leiter von ZEIT Leserreisen, als Vortragender, als Fernsehkritiker und Kurator. Nach vierzehn Jahren mit Auslandsbüros in Ecuador, Kolumbien und Spanien wechselte Peter Korneffel 2008 nach Berlin. Von seinem Büro in Kreuzberg aus reist er nun weltweit zu Reportagen oder taucht ein in die Kulturgeschichte Berlins. In der Hauptstadt schreibt er den Kultur- und Szeneführer über die Biermanufakturen in Berlin und das Doppelportrait Die Humboldts in Berlin. Illustration: Frank Nikol |
---|---|
Person | Von Peter Korneffel und Frank Nikol |
Vita | Peter Korneffel ist in Münster in Westfalen geboren. Er ist gelernter Medienpädadoge und Kabarettist, ausgebildet in Schauspiel, Regie und Text. Er arbeitete zunächst als Jugendzentrumsleiter im Ruhrgebiet und tourte dann mehrere Jahre als politischer Solokabarettist vornehmlich durch Nordrhein-Westfalen und Berlin. 1993 bereiste er erstmals Ecuador und ging im Folgejahr als Journalist und freier Korrespondent verschiedener deutscher Medien nach Südamerika. Er arbeitet seither als Auslandsreporter, als Reisebuchautor, als Leiter von ZEIT Leserreisen, als Vortragender, als Fernsehkritiker und Kurator. Nach vierzehn Jahren mit Auslandsbüros in Ecuador, Kolumbien und Spanien wechselte Peter Korneffel 2008 nach Berlin. Von seinem Büro in Kreuzberg aus reist er nun weltweit zu Reportagen oder taucht ein in die Kulturgeschichte Berlins. In der Hauptstadt schreibt er den Kultur- und Szeneführer über die Biermanufakturen in Berlin und das Doppelportrait Die Humboldts in Berlin. Illustration: Frank Nikol |
Person | Von Peter Korneffel und Frank Nikol |