Der Himmel im Meer

Zwei Grönlandkolonialisten stellten sich der Auslöschung indigenen Kulturerbes durch Missionare entgegen und bewahrten Texte und Bilder der Inuit vor dem Vergessen

In Grönlands Hauptstadt Nuuk steht am historischen Kolonie­hafen eine Bronzeskulptur des nor­wegischen Missionars Hans Egede (1686–1758). Gestützt auf einen mächtigen Hirtenstab, die Bibel vor der Brust, blickt der Gottesmann übers Meer. Von heutigen Hauptstädtern auf seinem überragenden Hügelstandort bespöttelt, steht Egede für seine eigene Wahrheit: Seit er 1721 gelandet war, hat die Mission innerhalb weniger Jahrzehnte die alte Religion der Inuit ausgerottet. Wo es früher Schamanen, Trommelgesänge und mündliche Überlieferung gab, waren jetzt Missionare, Katecheten und Bibel. Es gab einen rasanten Kulturwandel in Westgrönland, und noch heute gilt vielen das Tempo der Bekehrung als Beweis für die metaphysische Unter­legenheit der schriftlosen Kultur.

Eine Ursache dafür war auch die Versorgung mit modernen Waren. Die damals nur wenige tausend Ureinwohner konnten zwar auf eine jahrtausendealte Überlebensgeschichte in der rauen arktischen Natur zurückblicken, doch als Jägernomaden waren sie einer bedrohlichen Unberechenbarkeit ihrer Lebensumstände ausgesetzt. Auf Jagd- und Sammelerfolg folgten Mangel- und Hungerperioden. So gab es keinen vernünftigen Grund, den materiellen Versprechungen der Zivilisa­tion zu widerstehen. Gewehre halfen, die Vorräte erheblich aufzustocken, Stahlnadeln, die Nähte der überlebenswichtigen Pelzkleidung dichter zu machen, und Tabak gehörte auch am Polarkreis zu kolonialen Tauschgütern ers­ten Ranges. Beziehungen zu Weißen bestanden ohnehin schon lange; Walfänger, Trankocher und Pelzhändler hatten für die Inuit vorteilhafte Kontakte etabliert.

Aber der Handelsmann Egede aus dem Königreich Dänemark-Norwegen war an einem anderen Tauschgeschäft interessiert: Eure heidnischen Trommeltänze gegen meine Bibel, eure Schamanen gegen meine Katecheten. Er war erfolgreich – heute gehören die meisten der 57 000 Grönländer einer christlichen Kirche an.

Dennoch, der Sieg der Missionare und Kolonialisten war nicht so ewig, wie es die leicht kippende Statue von Hans Egede demonstrieren soll. Davon zeugen zwei Vertreter einer anderen grönländischen Kultur des 19. Jahrhunderts: die Erzähler, Chronisten und Illustratoren Aron von Kangeq (1822–1869) und Jens Kreutzmann (1828–1898). Beide waren aktiv im Dienst der Kolonialisten, trugen aber mit ihren Werken erheblich zur Bewahrung und Schaffung einer eigenen grönländischen Kultur bei. Ihre Werke sind inzwischen in dänischer Sprache zugänglich, werden fürs Deutsche vorbereitet und gelten in Grönland als Schätze einer nationalen Kultur­geschichte.

Am Anfang dieses nationalen Kulturprojekts stand Hinrich Johannes Rink (1819–1893). Der dänische Geologe, Weltreisende und spätere Grönlandchef des alleinherrschenden Kolonialkonzerns KGH (Königlich-Dänischer Grönland-Handel) hatte eine enge Beziehung zu den Einheimischen. Während geologischer Studien und seiner Inlandeisforschung in Nordgrönland lebte er vier Jahre bei den Polarinuit. 1858 wurde er Inspektor für Südgrönland, beförderte die politische Inte- gration der Inuit und rief ein ein­maliges Projekt ins Leben: Er forderte die Einheimischen auf, ihre Geschichten zu sammeln. Sie wurden eingereicht, honoriert und gedruckt. Rink fand zahlreiche Beiträge, die sich auf zwei verschiedene Quellentypen bezogen: die „Oqalluttuat“, also „wirklich alte Erzählungen“, die man mit allergrößtem Respekt vor den Ahnen in genauem Wortlaut wiederzugeben hatte; dazu die jüngeren „Oqalualaarutit“, die freizügiger waren und der Unterhaltung und Zerstreuung dienten.

Leider kamen ihre grönländischen Texte in naturgemäß abenteuerlicher Orthografie und Grammatik an; die 1851 von dem Herrnhuter Missionar und Naturforscher Samuel Kleinschmidt vollendete „Grammatik der grönländischen Sprache“ begann sich erst langsam zu etablieren. Jens Kreutzmann und Aron von Kangeq kannten Kleinschmidt und seine Grammatik und hielten sich daran. Auch sie betätigten sich für Rink als Sammler und Transkriptoren jener Erzähler, die nicht schreiben konnten oder wollten. Vor allem aber schufen sie eigene Originalwerke, die bis heute in einer spannenden kulturellen Vieldeutigkeit schillern.


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mare No. 116

No. 116Juni / Juli 2016

Von Martin Zähringer

Der Schwarzwälder Martin Zähringer studierte während seines Nordistikstudiums auch Eskimologie in Kopenhagen. Er lebt als Übersetzer, Autor und Moderator in Berlin.

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Vita Der Schwarzwälder Martin Zähringer studierte während seines Nordistikstudiums auch Eskimologie in Kopenhagen. Er lebt als Übersetzer, Autor und Moderator in Berlin.
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